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17.03.10  Täuschen Verwesungsstadien evolutionäre Abfolgen vor?

Der Erhaltungszustand und der Informationsgehalt von Fossilien hängen stark von ihrem Verwesungsgrad und dem Zeitpunkt ihrer Überdeckung durch Sediment ab. Besonders die nicht-mineralisierten Weichteile wie Muskeln, innere Organe oder Hautstrukturen zersetzen sich schnell, während Skelett und Zähne länger widerstehen und darum auch öfter gefunden werden.

Bisher war allgemeine Meinung, dass der Zerfall der Weichteile verendeter Organismen keiner speziellen Regel folge und damit ohne Konsequenzen für deren systematische Einordnung bei der Rekonstruktion ihrer Phylogenese sei. Untersuchungen von Sansom et al. (2010) zeigten jetzt, dass diese Annahmen falsch sind (vgl. auch den Kommentar von Briggs 2010). Sansom et al. töteten Lanzettfischchen (Branchiostoma lanceolatum, ein relativ einfach gebautes Chordatier) und Larven des Flussneunauges (Lampetra fluviatilis, ein einfaches Wirbeltier) ab, lagerten sie in Meerwasser und beobachteten, in welcher Reihenfolge die Körperteile verwesten. So zeigte sich, dass Teile des Kopfes regelhaft vor denen des Körperstammes verwesen. Beim Flussneunauge im Speziellen war das mehrkammerige Herz nach 11, die Augen nach 64 und Darm und Leber erst nach 130 Tagen verschwunden. Beim Lanzettfischchen ging zuerst der Augenfleck verloren, während wie beim Flussneunauge die Muskelblöcke (Myomere) des Körperstammes am längsten nachweisbar blieben.

Das interessanteste Ergebnis ist, dass die grundlegenden, bauplantypischen Merkmale, die als stammesgeschichtlich alt bewertet werden mit dem Zeitpunkt ihres Verschwindens während des Verwesungsprozesses auffällig korrelieren: Die nach evolutionären Hypothesen zuletzt erworbenen Merkmale (apomorphe Merkmale) verwesen bis auf wenige Ausnahmen regelhaft zuerst, die phylogenetisch alten und von gemeinsamen Vorfahren übernommenen Merkmale (plesiomorphe Merkmale) lösen sich zuletzt auf. Je länger also die Kadaver des Lanzettfischchens oder des Flussneunauges ungestört zerfallen konnten, umso mehr ähnelten sie ihrer gemeinsamen hypothetisch-evolutionären Stammform.

Aus diesen empirischen Befunden ergeben sich, so die Autoren, tiefgreifende Konsequenzen für die Interpretation des Fossilberichtes bezüglich der Herleitung der Wirbeltiere. Die bereits existierende Unsicherheit bei der Interpretation von Fossilien von Chordatieren und verwandten Formen und damit bei der Erstellung evolutionärer Stammbäume wird noch weiter verschärft. Da anzunehmen ist, dass die am Flussneunauge und am Lanzettfischchen beobachtete Phänomene – die evolutionär „jüngeren“ Merkmale verwesen zuerst und die evolutionär „älteren“ zuletzt – auch für die fossil bekannten Formen gelten, sind wahrscheinlich viele Fossilien zu Unrecht als zu „einfach“ beschrieben worden. Das heißt „moderne“ Formen können auch die Quelle für Fossilien sein, die bisher als repräsentativ für primitive Formen galten. Die auf der Basis des morphologischen (=gestaltlichen) Vergleichs von Fossilien rekonstruierten stammesgeschichtlichen Abfolgen von „primitiv“ zu „komplex“ könnten deshalb in bestimmten Fällen einen evolutionären Wandel nur vortäuschen. Die Autoren machen klar, dass bisher keine methodischen Werkzeuge verfügbar sind, um zwischen evolutionär bedingter und einer durch den Zerfall eines toten Körpers hervorgerufenen Bauplaneinfachheit zu unterscheiden.

Die durch diese Zusammenhänge mögliche Fehlbewertung von Lebensformen als evolutionär primitiv bzw. ursprünglich („stem-ward-slippage“, etwa „Stammgruppenschlüpfrigkeit“, wie die Autoren sie nennen), erschwere die Erstellung der evolutionären Stammbäume insbesondere für die basalen („ursprünglichen“) Gruppen der großen Tierstämme erheblich.

Literatur

Briggs DEG (2010) Decay distorts ancestry. Nature 463, 741-743.

Sansom RS, Gabbott SE, Purnell MA (2010) Non-random decay of chordate characters causes bias in fossil interpretation. Nature 463, 797- 800.

Gastbeitrag von Wolfgang Lindemann


Autor dieser News: Studiengemeinschaft Wort und Wissen, 17.03.10

 
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