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20.04.11 Von komplex nach einfach?Evolution bedeutet den schrittweisen Aufbau der Baupläne der Lebewesen. Immer wieder aber muss aufgrund von Merkmalsvergleichen angenommen werden, dass Entwicklungen in die umgekehrte Richtung abgelaufen sein müssten, wenn eine Evolution abgelaufen wäre, und dass hypothetische Stammformen von Tiergruppen komplex gewesen sein müssen. Woher aber kommen diese hypothetischen Vorläufergruppen? Unklar ist auch, weshalb in evolutionstheoretischer Sicht Organe immer wieder verloren gegangen sind. Vor zwei Jahren erhielt ein unscheinbares Geschöpf besondere Aufmerksamkeit: Der zu den Placozoa („Plattentiere“) gehörende sehr einfach gebaute Vielzeller Trichoplax adhaerens, der als „Urvater“ der Tiere galt, wurde überraschend aufgrund umfangreicher und vielseitiger Untersuchungen in eine abgeleitete phylogenetische Position umgruppiert (zu Einzelheiten siehe Der einfachste Vielzeller kommt groß heraus). Folge davon ist, dass angenommen werden muss, dass der gemeinsame hypothetische Vorfahr von Trichoplax adhaerens und der anderen Vielzeller überraschend komplex war. Einer der Bearbeiter, Prof. Schierwater, äußerte, dass aufgrund der Ergebnisse eine unerwartete Parallelentwicklung von niederen und höheren Tieren angenommen werden müsse und dass in Frage gestellt sei, dass sich komplexere Formen graduell aus einfacheren Formen ableiten. „Hier müssen wir wohl umdenken“ (http://idw-online.de/pages/de/news297821). Ein genetisch komplexer Vorfahr wurde schon seit einiger Zeit angenommen, weil sich gezeigt hat, dass bei verschiedensten Tiergruppen die gleichen Regulationsgene, die für die Bildung von Organen erforderlich sind, aktiv sind. Diese müssten laut evolutionstheoretischer Argumentation auch im hypothetischen gemeinsamen Vorfahren präsent gewesen sein (vgl. Evo-Devo). Zwei neue Studien anderer Tiergruppen weisen nun erneut in diese Richtung: Evolutionäre Stammformen müssen als sehr komplexe Lebensformen betrachtet werden. Acoela. Zunächst soll über eine Studie an winzigen Würmern berichtet werden. Es handelt sich um die Gruppe der Acoela, deren Name vom Fehlen eines Coeloms (Körperhohlraum) abgeleitet ist. Die Acoela sind stark abgeflachte Würmer, sind meist unter 2 Millimeter lang, haben nur eine einzige Körperöffnung und besitzen keinen Magen. Den Besitz von nur einer einzigen Körperöffnung haben sie mit den Cnidaria (Seeanemonen und Quallen gemeinsam, anders als diese haben sie drei und nicht nur zwei embryonal angelegte Gewebeschichten (Keimblätter), weshalb sie als willkommene Zwischenformen zwischen den Cnidariern und höheren Tieren galten. Eine neue Studie von Telford und Mitarbeitern (Philippe et al. 2011) kommt zu dem Ergebnis, dass die Acoela an die Basis der Deuterostomier (Neumundtiere) in die Nähe der Stachelhäuter (zu denen beispielsweise Seeigel gehören) zu stellen sind, ein deutlicher Sprung nach oben im hypothetischen phylogenetischen Stammbaum. Ihre genetischen Analysen legen nahe, dass die Acoela und der marine (=im Meer lebende) Wurm Xenoturbella von einer komplexeren Form abstammen muss und die meisten Merkmale, die andere Deuterostomier auszeichnen, während ihrer Stammesgeschichte offensichtlich verloren haben (vgl. Maxmen 2011). Zu dieser Schlussfolgerung gelangten die Autoren aufgrund der Auswertung von drei verschiedenen unabhängigen Datensätzen (Kern-DNA, mitochondriale DNA und microRNA). Maxmen (2011, 162) kommentiert: „Wenn die Acoela zu den Deuterostomiern passen, müssen diese Würmer von einem Vorfahren mit einem Zentralnervensystem, einer Körperhöhle und einem durchgehenden Verdauungssystem, das Mund und Anus verbindet, evolviert sein – Merkmale, die bei den heute lebenden Deuterostomiern anzutreffen sind. Daher müssen die Forscher erklären, wie die Acoela und Xenoturbella diese und andere Merkmale verloren haben. Sie müssen auch nach einer anderen primitiven Linie Ausschau halten, die den evolutionären Schritt zwischen quallenartigen Tieren und den Bilateriern (Zweiseitentiere) repräsentieren.“ Die neue Stellung der Acoela ist allerdings noch umstritten. Sollte sie aber zutreffen, gilt einmal mehr, dass im evolutionstheoretischen Rahmen Entwicklungen von komplex zu einfach angenommen werden müssen und eine vorhandene Lücke zwischen verschiedenen Tiergruppen sich noch größer darstellt als zuvor angenommen. Ringelwürmer. Die zweite Studie, über die hier kurz berichtet werden soll, handelt von den Ringelwürmern (Annelida), deren interne Beziehungen in einer phylogenomischen Analyse untersucht wurden (Struck et al. 2011). Dabei wurden 34 Anneliden-Taxa und 47.953 Aminosäure-Positionen von 231 Proteinen in die Untersuchungen einbezogen. In der Geschichte der Systematik dieser Gruppe gab es manche Umgruppierungen, die Struck et al. in einem kurzen Überblick erläutern. Die Wissenschaftler erzielten nun ein „überraschend klares Ergebnis“ (Arendt 2011). Demnach ist die Hauptgruppe der Anneliden deutlich unterteilt in die beiden Gruppen Errantia (frei bewegliche Arten) und Sedentaria (teilweise festsitzende grabende oder in Röhren lebende Arten). Auch hier folgt aus der neuen Phylogenie, dass angenommen werden muss, dass der letzte gemeinsame Vorfahre der Anneliden ein mit Sinnesorganen „reichlich ausgestattetes“ Tier gewesen sein muss (Arendt 2011). Legt man die morphologischen (gestaltlichen) Merkmale zugrunde, gibt es ein „schwerwiegendes Problem“: die offenkundige Leichtigkeit, mit der Merkmale während der Evolution verloren gehen können. Arendt illustriert dies am Beispiel der Palpata, einer Anneliden-Gruppe deren Mitglieder durch den Besitz spezieller Kopf-Anhänge, sogenannten Palpen, gekennzeichnet sind. Aufgrund der neuen Anneliden-Phylogenie muss ein unabhängiger Verlust von Palpen bei den Errantia und den Sedentaria angenommen werden. „Dieses Beispiel bestätigt die allgemeine Idee des häufigen und unabhängigen Verlusts von Merkmalen während der Evolution der Tiere“, kommentiert Arendt (2011, 44). Befunde wie diese werfen zum einen aber immer wieder neu die Frage auf, wie die komplexeren Vorfahren entwickeln konnten. Die Merkmale, die verloren gegangen sein sollen, müssen schließlich zuvor erst einmal entstanden sein. Außerdem muss es Ursachen geben, die zum Verlust geführt haben. Zum anderen stellen sich die unerwarteten Merkmalsverteilungen in einer nicht-evolutionären Perspektive in einem anderen Licht dar: Wenn Merkmale im Prinzip frei kombinierbar sind, sind „unpassende“ Merkmalskonstellationen verständlich und die Frage nach den Gründen eines Verlustes stellt sich nicht. Arendt (2011) weist in seinem Kommentar auch darauf hin, dass die methodische Stärke der Cladistik gleichzeitig große Probleme erzeugt: eine Inkonsistenz von Ergebnissen von verschiedenen methodischen Ansätzen der Phylogeneseforschung. Die molekularen Verwandtschaften führen schon fast regelmäßig zu Umgruppierungen, die auf der morphologische Ebene die Annahme erzwingen, dass Vorfahren (relativ) komplex waren und Merkmal häufig verloren gingen.1 Wenn verschiedene Methoden immer wieder zu widersprüchlichen Ergebnissen führen, könnte dies ein Indiz auf ein grundsätzliches nicht erkanntes Problem sein. Literatur Arendt D (2011) Annelid who’s who. Nature 471, 44-45. Maxmen A (2011) A can of worms. Nature 470, 161-162. Philippe H et al. (2011) Acoelomorph flatworms are deuterostomes related to Xenoturbella. Nature 470, 255-258. Struck TH, Paul C, Hill N, Hartmann S, Hösel C, Kube M, Lieb B, Meyer A, Tiedemann R, Purschke G & Bleidorn C (2011) Phylogenomic analyses unravel annelid evolution. Nature 471, 95-99. Anmerkung 1 „The case of the annelids exemplifies both the beauty and the pitfalls of phylogeny reconstruction when applying the principle of parsimony, which settles on the tree minimizing gain or loss of particular characteristics. At the molecular level, this approach has proved very powerful, and it has been further enhanced by the advent of phylogenomics. But it is becoming increasingly obvious that, on the basis of morphological characteristics alone, there is a serious problem: the apparent ease with which such characteristics are lost“ (Arendt 2011).
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