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20.07.13  Morphologie und Moleküle in scharfem Widerspruch

Unter der Annahme von Evolution war erwartet worden, dass Ähnlichkeitsbäume(Cladogramme), die auf „traditionellen“ anatomischen und morphologischen (=gestaltlichen) Merkmalen beruhen, mit Ähnlichkeitsbäumen harmonieren, die auf molekularen Daten basieren (also auf Sequenzvergleichen von Proteinen und Nukleinsäuren). In vielen Fällen haben jedoch molekulare Analysen sicher geglaubte traditionell begründete Verwandtschaftsverhältnisse in Frage gestellt. Moleküle und Morphologie passen oft nicht ohne weiteres zusammen. Eine besonders schwerwiegende Diskrepanz wurde unlängst bei den Eidechsenartigen beschrieben.

Als die ersten Cladogramme (baumförmige Darstellung von Ähnlichkeitsbeziehungen) auf der Basis von Proteinvergleichen verschiedener Arten veröffentlicht wurden, schienen sie dieÄhnlichkeitsmuster der „klassischen“ Taxonomie zu bestätigen, denen morphologische (gestaltliche) und anatomische Merkmale zugrundeliegen. Moleküle (Proteine, DNA) und Morphologie passten zusammen, so wie es ausevolutionstheoretischer Perspektive auch erwartet worden war. Man sah darineine Bestätigung, die Cladogramme als evolutionäre Abstammungsabfolgen zuinterpretieren.

Bald aber tauchten auch Diskrepanzen auf, die Zusatzhypothesen und kompliziertere Erklärungen erforderten, um die Daten evolutionstheoretisch schlüssig interpretieren zu können. Es stellte sich heraus, dass molekulare Daten den klassischen Verwandtschaftsbeziehungen insbesondere der größeren systematischen Gruppen oft widersprachen (s. z. B. Richter & Sudhaus 2004; Valentine 2004, 115, 148; u. v. a.). Losos et al. (2012) berichten nun von einem Fall einer schwerwiegenden Diskrepanz zwischen morphologischen und molekularen Phylogenien, für deren Auflösung nach ihrer Einschätzung kein Schüssel in Sicht ist. Es geht dabei um die Ähnlichkeitsbeziehungen der Eidechsenartigen (Lacertilia) mit über 30 Familien und ca. 9000 Arten. Sie werden in die Leguanartigen (Iguania), Geckoartigen (Gekkota), Skinkartigen (Scincomorpha) und die Schleichenartigen (Anguimorpha) unterteilt. Nach traditioneller Sicht gabeln sich die Eidechsenartigen an der Basis in die Leguanartigen und die Scleroglossa, diese wiederum in die Geckoartigen und alle anderen Gruppen (siehe Abb. unter http://www.sciencemag.org/content/338/6113/1428/F1.large.jpg). Die Leguanartigen besitzen demnach viele anzestrale („ursprüngliche“) Merkmale. Doch widersprechen molekulare Daten, die in den letzten zehn Jahren gewonnen wurden, dieser Sicht massiv. Demnach befinden sich die Leguanartigen nämlich weit oben im Cladogramm bei den Schleichartigen und Schlangen. Dem auf morphologischen Merkmalen basierten Cladogramm liegt eine enorm große Datenbasis von 192 Arten und 610 variablen Merkmalen zugrunde, von denen 40% erst durch neue Untersuchungstechniken ermittelt wurden. Es war erwartet worden, dass die Verbesserung des morphologischen Datensatzes zu einer Annäherung an das molekular begründete Cladogramm führen würde, „doch die Daten hätten nicht widersprüchlicher sein können“ (Losos et al. 2012, 1429). Kein einziges relevantes Merkmal unterstützt die Position der Leguanartigen hoch im Cladogramm der Eidechsenartigen.

Welche Lösungsmöglichkeiten gibt es? Losos et al. (2012) stellen fest, dass bei widersprüchlichen Phylogenien einer der beiden Datensätze irreführend sein müsse. Zum einen könnten viele gemeinsame morphologische Merkmalekonvergent oder durch Rückentwicklung entstanden sein. Dann würden die Ähnlichkeiten fälschlicherweise gemeinsame Abstammung vortäuschen. Das müsse man häufig annehmen. Doch in diesem Fall sei dies unwahrscheinlich, weil die anzunehmenden Rückentwicklungen viele funktionell verschiedene Teile der Anatomie betreffen, die zudem embryonal auf verschiedene Weisen entstehen. Außerdem haben die Leguanartigen verschiedene Lebensweisen, von großen Pflanzenfressern über ameisenfressende Krötenechsen bis zu gleitend sich fortbewegenden Formen. Diese Vielfalt spiegle kaum eine Anpassung an einen allgemeinen Lebensstil vonwider, so Losos et al.

Aber die Alternative, dass die molekularen Daten irreführend sind, scheitert an der Tatsache, dass nicht weniger als 44 protein-codierende Gene dem molekularen Cladogramm zugrundliegen, die alle in dieselbe Richtung weisen. Es sind zwar Fälle molekularer Konvergenzen bekannt, aber hier müsste ein unerklärbar hohes Ausmaßan Konvergenzen angenommen werden. Wir sind mit einem Rätsel konfrontiert, konstatieren Losos et al.1 Wenn Konvergenzen derart tiefgreifend sind, welches Vertrauen könne man dann in Phylogenien fossiler Taxa haben, für die keine molekularen Daten verfügbar sind? Und akzeptiert man die morphologisch basierte Phylogenie, fehlt eine Erklärung für die molekularen Befunde.

Sollte dieser durchausgesprochen zahlreiche Daten gestützte Befund ein Hinweis darauf sein, dass das evolutionäre Paradigma sich nicht bewährt? Jedenfalls entsteht das bisher unlösbare Rätsel nur deshalb, weil Evolution als Interpretationsrahmen nicht zur Disposition gestellt wird.

Literatur

Losos JB, Hillis DM & Greene HW (2012) Who speaks with a forked tongue? Science 338, 1428-1429.

Richter S & Sudhaus W (Hg, 2004) Kontroversen in der Phylogenetischen Systematik der Metazoa. Sitzungsbericht der Gesellschaft Naturforschen der Freunde zu Berlin. N.F. 43, 1-221. Buchbesprechung: http://www.wort-und-wissen.de/jg14/heft2/sij142-r.html

Valentine JW (2004) On the origin of phyla. University of Chicago Press.

Anmerkung

1 Eine mögliche (wenn auch unbefriedigende) Erklärung, die die Autoren selbst anführen, liegt in der Struktur des Baumes der molekularen Analyse (Abb. B unter http://www.sciencemag.org/content/338/6113/1428/F1.large.jpg), bei dem es sich um ein Phylogramm handelt, das im Gegensatz zum auf der Morphologie basierenden Cladogramm (Abb. A) nicht nur die Topologie, sondern auch die Astlängen zeigt. Die Linie zu den Leguanen in Abb. 1B ist sehr stark in die Länge gezogen im Vergleich zu allen anderen Ästen des Baumes. Bei solchen Mustern, die man auf unterschiedliche Evolutionsraten der Gene in verschiedenen Organismenlinien zurückführt, werden die Methoden der phylogenetischen Analyse leicht überstrapaziert oder deren Vorannahmen verletzt. Dies könnte bedeuten, dass die unerwartete Gruppierung der Leguane ein Artefakt der Analyse darstellt und dass daher diese molekularen Daten gar nicht in der Lage sind, die Beziehungen zu klären (immer unter der Annahme einer gemeinsamen Abstammung der Reptilien). Plausible Gründe für solche stark beschleunigten Raten sind zumindest in diesem Fall offenbar nicht bekannt. Der molekulare Baum sagt daher im Wesentlichen aus, dass Leguane von allen anderen Reptilien genetisch sehr stark abweichend sind.


Autor dieser News: Reinhard Junker, 20.07.13

 
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