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09.01.23  Beobachtungen bei Schimpansen widersprechen „Savannen-Hypothese“

Eine Studie von Drummond-Clarke et al. (2022, 1) ist dem Ziel gewidmet, anhand der Beobachtung heute lebender Schimpansen die Plausibilität der berühmten „Savannen-Hypothese“ zu prüfen, die sich bis heute in Fachliteratur und Schulbüchern findet. Demnach soll der Erwerb des zweibeinigen Ganges durch eine baumärmere Savannen-Umgebung begünstigt gewesen sein. Die Ergebnisse der Autoren widersprechen der Savannen-Hypothese jedoch deutlich.

 

Die Savannenhypothese

Die bekannte „Savannen-Hypothese“ besagt, dass sich im späten Miozän bis Pliozän (ca. 10 bis 2,5 MrJ [Mio. radiometrische Jahre]) die Wälder in Afrika zurückgezogen haben sollen, was die Homininen (vermeintliche Vormenschen seit Abspaltung der Schimpansen-Linie) dazu gebracht hätte, sich viel häufiger zweibeinig fortzubewegen (Drummond-Clarke et al. 2022, 1). Auf diese Weise sei schrittweise der zweibeinige menschliche Gang entstanden. So heißt es zum Beispiel im aktuellen Oberstufen-Biologiebuch Biosphäre Gesamtband SII (Becker 2020, 509): „Aus dem ursprünglich zusammenhängenden Regenwald entwickelte sich eine Savannenlandschaft mit Galeriewäldern, in der die Nahrung ungleichmäßig verteilt war. Genau in dieser Region befinden sich die meisten Fundstellen aufrecht gehender Vormenschen. Obwohl sie sich weniger schnell fortbewegen konnten als Vierbeiner, mussten sie in dieser Landschaft dennoch einen Vorteil gehabt haben. So wurde berechnet, dass sich mit der zweibeinigen Fortbewegung bei vergleichbarem Energieaufwand [mindestens] doppelt so weite Strecken zurücklegen lassen wie mit vierbeiniger Fortbewegung.“ Ähnlich schreibt der Professor für Biologiegeschichte Thomas Junker (2021, 16): „Bei Menschen dagegen sind die abweichenden Merkmale entstanden, weil sie sich an andere ökologische Bedingungen – an das Leben in Baum- und Grassavanne – angepasst haben.“

Abbildung 1: Australopithecus in der Wüste

Drummond-Clarke et al. (2022) halten zu Beginn ihres Artikels allerdings erst einmal fest, dass keine direkten fossilen Belege für die Savannen-Hypothese existieren, und dass es Schwierigkeiten dabei gibt, „die Beziehung zwischen Verhalten und Lebensraum allein aus der Morphologie [Körperbau] zu rekonstruieren“. Daher halten sie verhaltensbiologische Studien bei Schimpansen als den nächstverwandten lebenden Arten für den entscheidenden „Schlüssel“ zum Verständnis zur Evolution des aufrechten Ganges (S. 1).

 

Die Freilandbeobachtungen bei Schimpansen

Die Wissenschaftler unternahmen einen Test dieser Hypothese, indem sie das Verhalten einer Schimpansen-Gruppe untersuchten, die sich erst seit 2018 in der Issa-Talregion (im Westen Tansanias) angesiedelt hatte. Diese Region enthält ein sogenanntes Savannen-Mosaik aus offenem woodland und kleinen geschlossenen Waldregionen (forest). Die Landschaft soll darin dem Lebensraum der frühen Homininen wie Orrorin, Ardipithecus ramidus und Australopithecus afarensis  vergleichbar gewesen sein (S. 2). Übrigens soll auch die Ernährung von Bäumen bei Homininen vor ca. 4 MrJ der Ernährung heutiger Savannen-Schimpansen geähnelt haben (Drummond-Clarke et al. 2022, 1+5).

Die Forscher konnten ca. 13.700 Beobachtungen von 13 erwachsenen Schimpansen aufzeichnen (S. 3). Dabei fanden sie heraus, dass die Schimpansen sich in offener Vegetation „signifikant“ häufiger am Boden fortbewegten als in geschlossener Vegetation (82 % vs. 61 % der Fortbewegung). Die Sensation war, dass Zweibeinigkeit hauptsächlich in Bäumen (zu 86 %) – also beim Klettern – aber nur zu 14 % am Boden auftrat. Schimpansen nutzen Zweibeinigkeit am Boden in der Savanne also erstaunlich selten. Meistens war die Zweibeinigkeit mit der Nahrungssuche assoziiert (73 % aller Beobachtungen). Ein Vergleich mit Schimpansen aus anderen Lebensräumen (in Mahale, Gombe und Bwindi) ergab weiterhin (S. 4): „Issa hat den höchsten Prozentsatz von zweibeinigem Verhalten zum Zweck der Fortbewegung, aber es scheint keinen Zusammenhang zwischen der Gesamthäufigkeit der Zweibeinigkeit und dem Lebensraumtyp zu geben.“

Insgesamt waren die Schimpansen Issa nur in 0,77 % der Zeit mit zweibeinigem Stehen oder Gehen beschäftigt. Davon machte das zweibeinige Gehen wiederrum nur ein Viertel der Fälle aus, weshalb sich die Schimpansen insgesamt nur in ca. 0,2 % der Zeit zweibeinig fortbewegten. Dies widerspricht den Erwartungen der Savannen-Hypothese, wie auch die Autoren konstatieren (S. 5): „Unsere Ergebnisse stellen die seit Langem bestehende Assoziation zwischen zunehmender Terrestrialität [Leben am Boden] und der Evolution des Zweibeinertums als Fortbewegungsverhalten bei frühen Homininen in Frage. […] Issa-Schimpansen blieben in hohem Maße baumbewohnend und nutzten in offener Vegetation nicht mehr Zweibeinigkeit […].“

Dementsprechend hat sich die Zweibeinigkeit der Homininen nicht in der Savanne entwickelt – die Autoren vermuten stattdessen eine Entstehung in den Bäumen (S. 4). Dies ist eine Theorie, die seit dem Fund von Ardipithecus ramidus häufiger diskutiert wird – obwohl ähnliche Anpassungen an Zweibeinigkeit (sofern diese nicht fehlinterpretiert wurden; vgl. Scholl 2022c, 23) bei anderen miozänen Affen als Parallelevolution zur Entwicklung des Menschen gedeutet werden (vgl. Hartwig-Scherer 2011; Scholl 2022c, 9, 12, 19, 26). Es sei außerdem angemerkt, dass beim balancierenden Stehen oder Laufen in Bäumen ganz andere biomechanische Ansprüche und Selektionsdrücke im Detail angenommen werden müssen als beim ausdauernden, schreitenden menschlichen Gang am Boden. Dieser Sachverhalt untermauert die schon früher gemachte Feststellung: „Somit ist nach Prahabat et al. (2021) noch kein bisschen klar, wann und wie überhaupt ein Übergang „vom Baumleben zur dauerhaften Zweibeinigkeit‘ stattgefunden haben könnte.“ Außerdem war H. erectus auch als ältester Hominine eindeutig an einen gewohnheitsmäßigen menschlichen Gang angepasst (vgl. Ruff 2009; Brandt 2017a).“ (Scholl 2022a, Genesisnet-Artikel Eine modern menschliche Wirbelsäule bei Australopithecus sediba?)

Ein weiterer Versuch zur Rettung der Savannen-Hypothese ist das Argument, dass Schimpansen nur begrenzt als Modell dienen könnten (vgl. Vieweg 2022), weil man voraussetzt, dass der letzte gemeinsame Vorfahr von Schimpanse und Mensch dem Schimpansen gar nicht so sehr geähnelt habe. Allerdings ist unter Wissenschaftlern sehr umstritten, wie der letzte gemeinsame Vorfahr überhaupt zu rekonstruieren sei (vgl. Scholl 2022c, v. a. 4f); und auch Drummond-Clarke et al. (2022, 1+5) betonen die Eignung von Schimpansen als den besten Test für die Savannen-Hypothese.

 

Schlussfolgerungen

Überaus bemerkenswert ist die Einschätzung von Drummond-Clarke et al. (2022, 5) über die Unsicherheiten in der vermeintlichen Evolution des aufrechten Ganges: „Unklar bleibt jedoch, welche Art von Selektionsdruck auf die Homininen aufgrund dieses Übergangs in offene Lebensräume wirkte, da die gegensätzlichen Signale von Terrestrialität und Arborealität [Baumleben] viel Unsicherheit darüber lassen, wie genau die Homininen diese Lebensräume nutzten […]. Mit anderen Worten, die bloße Anwesenheit von Homininen sagt nichts darüber aus, wie sie in ihren Paläohabitaten [Lebensräumen] interagierten. Darüber hinaus zeigen biomechanische Modelle […] und die innere Knochenstruktur […] eine größere Variation im Haltungsrepertoire der Homininen als bisher angenommen.“

Außerdem schließen die Autoren aus ihren Beobachtungen, dass die Anpassungen an das Baumleben bei „vielen frühen“ (z. B. Sahelantropus, Orrorin, Ardipithecus und Australopithecus afarensis) und „sogar späten“ Homininen (sie nennen Australopithecus sediba, den vermeintlichen „Homo“ namens naledi und den rätselhaften Homo floresiensis) „funktionell bedeutende“ Anpassungen waren (S. 1+5). Zu diesen fossil untersuchbaren Körpermerkmalen, die als funktional bedeutende Kletteranpassungen zu werten sind, zählen die Autoren gebogene Zehen- und Fingerglieder, lange obere Gliedmaßen sowie bewegliche Gelenke in Schulter, Ellbogen und Handgelenk (S. 1).

Die tatsächlichen Beobachtungen bei Schimpansen sprechen damit gegen die von vielen Evolutionsbiologen favorisierte Savannen-Hypothese zum Erwerb des aufrechten Ganges. Exemplarisch wird hier deutlich, dass die Savannen-Hypothese eine evolutionär – und im Wesentlichen eben nicht empirisch – motivierte Spekulation darüber darstellt, wie der menschliche Gang hätte entstanden sein können. Wie oben von Drummond-Clarke et al. (2022, 1) beschrieben wurde, wird der spekulative Charakter daran ersichtlich, dass direkte fossile Beweise und eindeutige Beziehungen zwischen Körperbau, Verhalten, Lebensraum bei der Savannen-Hypothese fehlen. Stattdessen werden mittels „story telling“ (eine „Geschichte erzählen“) theoretische Spekulationen über Knochenfunde an fossilen Homininen und deren ökologisches Umfeld mit plausibel klingenden – aber oft rein hypothetischen – Wirkungen von Evolutionsfaktoren zu einer gut klingenden Geschichte verbunden (vgl. Scholl 2022c, v. a. 23f). Wird diese Geschichte oft genug in der Fachliteratur und in populären Darstellungen wiederholt, weil plausiblere Alternativen innerhalb des evolutionären Paradigmas fehlen, setzt sie sich schließlich auch in Schulbüchern und den Köpfen fest.

Aufgrund der Beobachtungen von Schimpansen in der Savanne bleibt festzuhalten: Die Entstehung des ausdauernd schreitenden Ganges bei echten Menschen, wie er fossil seit Homo erectus nachweisbar ist, ist weiterhin ungeklärt (vgl. Brandt 2017a; Scholl 2022b, S. 9f, 14, 18; Scholl 2022c, 14f, 22, 25f, 29; Brandt 2023, in Vorbereitung). So konstatiert auch Vieweg (2022) auf wissenschaft.de zum vorliegenden Artikel von Drummond-Clarke und Kollegen: „Nach wie vor bleibt ein Rätsel, warum die Vorfahren des Menschen schließlich eine aufrechte Fortbewegungsweise annahmen.“

 

Literatur

Becker J (Hrsg.) (2020) Biosphäre Sekundarstufe, II Gesamtband. 1. Aufl. Cornelsen Verlag Berlin.

Brandt M (2017a) Wie sicher sind Deutungen in der Paläanthropologie? Australopithecus sediba und sein merkwürdiges Merkmalsmosaik. In: Brandt M (Hg) Frühe Homininen. Eine Bestandsaufnahme anhand fossiler und archäologischer Zeugnisse. Studium Integrale Special. SCM Hänssler, S. 9–49.

Brandt M (2017b) Frühmensch war ein „Missing Link“? Die Schulter von Homo erectus. In: Brandt M (Hg) Frühe Homininen. Eine Bestandsaufnahme anhand fossiler und archäologischer Zeugnisse. Studium Integrale Special. SCM Hänssler, S. 93–103.

Brandt M (2023) Australopithecus ein effizienter Zweibeiner? W+W Special Paper, in Vorbereitung.

Drummond-Clarke RC et al. (2022) Wild chimpanzee behavior suggests that a savanna-mosaic habitat did not support the emergence of hominin terrestrial bipedalism. Aci. Adv. 8, eadd9752, doi: 10.1126/sciadv.add9752.

Hartwig-Scherer S (2011) Ardipithecus: Ein Astgänger sägt am Lehrbuchwissen. Stud. Integr. J. 18, 68–77.

Junker T (2021) Die Evolution des Menschen. 4. Aufl. C.H.Beck.

Prabhat AM et al. (2021) Homoplasy in the evolution of modern human-like joint proportions in Australopithecus afarensis. eLife 10:e65897, https://doi.org/10.7554/eLife.65897.

Ruff C (2009) Relative Limb Strength and Locomotion in Homo habilis. Am. J. Phys. Anthropol. 138, 90–100, doi: 10.1002/ajpa.20907.

Scholl B (2022a) Genesisnet, Eine modern menschliche Wirbelsäule bei Australopithecus sediba?

Scholl B (2022b) Homininen-Schädel: „Stolpersteine“ des Grundtypmodells? Eine schöpfungstheoretische Deutung der Funde von Dmanisi. W+W Special Paper B-22-1, https://www.wort-und-wissen.org/artikel/homininen-schaedel/.

Scholl B (2022c) „Totales Chaos“: Unklare Abstammungsverhältnisse bei Menschenaffen und Menschen. W+W Special Paper B-22-2, https://www.wort-und-wissen.org/artikel/miozaene-affen/https://www.wort-und-wissen.org/artikel/miozaene-affen/.

Vieweg M (2022) Aufrechter Gang: Fragliche Ursprungs-Annahme. wissenschaft.de, veröffentlicht am 14.12.2022, https://www.wissenschaft.de/erde-umwelt/aufrechter-gang-fragliche-ursprungs-annahme/.


Autor dieser News: Benjamin Scholl, 09.01.23

 
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