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31.03.23  Cratonavis: Mosaik aus T. rex und Vogel?

Vom Umgang mit unerwarteten Vogel-Fossilfunden

Ein jüngst entdecktes Fossil überrascht mit einer ungewöhnlichen Merkmalskombination: Ein Kopf, der in seiner Form Tyrannosaurus rex ähnelt, kombiniert mit einem Vogelrumpf. Der Fund wird zwar als weiteres Puzzlestück der Vogel-Evolution bezeichnet, steht wegen ausgeprägter Konvergenzen tatsächlich aber quer zu stammesgeschichtlichen Hypothesen. Wie gehen die Forscher damit um? 

Einführung

In populären Darstellungen wird oft behauptet, Fossilfunde bestätigten laufend die Vorstellung von einer Evolution der Lebewesen und neue Funde füllten Lücken im Stammbaum. Dass ein Fossil irgendeine Lücke füllt, ist trivial, wenn man voraussetzt, dass es einen Stammbaum überhaupt gibt. Die Frage ist hingegen: Füllen neuentdeckte Fossilien bisher vorhandene Lücken? Das ist in sehr vielen Fällen – vielleicht sogar in der Mehrzahl – durchaus nicht der Fall. Nicht umsonst erhalten neue Fossilfunde regelmäßig das Etikett „überraschend“, oder die Merkmale oder Merkmalsmosaike neuer Funde werden als „sonderbar“ oder „bizzar“ beschrieben. Das heißt, die betreffenden Merkmalskonstellationen waren evolutionstheoretisch nicht vorhergesagt worden und sind unerwartet. Natürlich widerlegen sie Evolutionstheorien als solche nicht, aber sie bestätigen sie auch nicht. Der vermutete historische Ablauf wird umfangreicher und komplexer und die Erklärungsleistung des Konzeptes damit geringer. Schließlich kann man immer den bisher bevorzugten Stammbaum ändern und an neue Funde anpassen – allerdings mit dem „Preis“, dass immer mehr Konvergenzen (=gleichartige Ausprägung von Strukturen abstammungsmäßig nicht verwandter Organismen, die evolutionstheoretisch als unabhängig entstanden interpretiert werden) angenommen werden müssen, also das unabhängige Auftreten ähnlicher Merkmale. Nicht selten kommt es vor, dass Merkmale, deren Ähnlichkeit zunächst als abstammungsbedingt interpretiert wurde (Homologien), später als Konvergenzen neu interpretiert werden müssen. Eine logische Schlussfolgerung dieser Situation ist, dass Bauplanähnlichkeiten kein sicherer Indikator für Evolution sein können.

Cratonavis

Ein aktuelles Beispiel für diese Situation ist ein kürzlich gemachter Fossilfund eines knapp habichtgroßen Vogels, der etwas schrill als „Urvogel mit Dino-Kopf“ (Manz 2023) oder als „seltsamer primitiver Vogel mit einem T. rex-Kopf“ (Puiu 2023) bezeichnet wurde. Das vollständig erhaltene Fossil wurde von Forschern der Chinese Academy of Sciences untersucht und als neue Art Cratonavis zhui beschrieben; sie haben es der neu aufgestellten Gattung Cratonavis zugeordnet (Abb. 421). Cratonavis wurde in den Jiufotang-Schichten Nordchinas entdeckt, die auf 120 Millionen radiometrische Jahre (MrJ) datiert werden (Li et al. 2023). Sein Körper war vogelähnlich, der Kopf jedoch ausgesprochen untypisch für Vögel und dinosaurierartig. Insgesamt war der Kopf dem des Tyrannosaurus rex recht ähnlich hinsichtlichreptilientypischen Schläfenfenstern (diapside (=mit zwei Schläfenfenstern des Schädeldachs ausgestattet) Ausprägung), Gaumenregion sowie unbeweglichem Oberkiefer. Cratonavis konnte daher seinen Oberschnabel nicht unabhängig von Hirnschale und Unterkiefer bewegen, anders als die meisten heute lebenden Vögel.

Zusammen mit den Gattungen Jinguofortis und Chongmingia wird Cratonavis in die erst vor wenigen Jahren aufgestellte Familie Jinguofortisidae gestellt. Diese Familie wird in den Bereich zwischen Archaeopteryx und der Vogelgruppe der Ornithothoraces (Gruppe aus ausgestorbenen Gegenvögeln (Enantiornithes) und Ornithuromorpha (=Vögel mit Fächerschwanz, zu denen auch die heutigen Vögel gehören)) eingeordnet (Abb. 422).

In der Meldung von scinexx.de (Manz 2023) wird behauptet, dass ausgehend von zweibeinigen Raub-Dinosauriern (Theropoden) die Formen, die zu den Vögeln führten, „Schritt für Schritt mehr den heutigen Vögeln ähnelten“. Diese Behauptung findet sich auch in der Fachliteratur (z. B. Brusatte et al. 2014). Der neue Fund scheint das auf den ersten Blick zu bestätigen: Dino-Kopf und Vogelkörper. Eine detaillierte Analyse der Merkmalsverteilungen der Theropoden-Familien zeigt jedoch, dass ein „schrittweiser“ Übergang nicht den Fossilbefunden entspricht, denn die vogelartigen Merkmale bei Dinosauriern sind sehr unsystematisch unter den verschiedenen Gruppen der Theropoden verteilt, was sich in einer auffällig großen Zahl von Konvergenzen äußert (Junker 2019, Tab. 2 und 3, S. 46). Viele der untersuchten Vogelmerkmale, die bei Theropoden vorkommen, sind gar nicht bei denjenigen Formen ausgebildet, die als unmittelbare Vogelvorläufer angesehen werden. Stattdessen müssten sie – unter Voraussetzung von Evolution – konvergent entstanden sein und zwar zu einem Zeitpunkt, als es längst schon Vögel gab. Und die meisten anderen untersuchten Merkmale gelten als allgemeine und verbreitet vorkommende Theropodenmerkmale und sind daher ebenfalls nicht gut geeignet, eine schrittweise Entstehung von typischen Vogelmerkmalen bei Theropoden zu belegen.

Der neue Fund Cratonavis bestätigt dieses Bild von großen Unstimmigkeiten: Es handelt sich zwar um eine ausgeprägte Mosaikform, aber sie passt nicht in eine lineare Reihe, die „Schritt für Schritt“ von Dinosauriern zu Vögeln führt. Denn der „Dino-Kopf“ steht gleichsam quer dazu, weil der etwa 30 MrJ ältere „Urvogel“ Archaeopteryx einen deutlich vogeltypischeren Schädel hatte (Martin 1985; Elzanowski & Wellnhofer 1995; 1996; Wellnhofer 2009), während sein Rumpf umgekehrt weniger vogeltypisch war als der von Cratonavis. Letzterer besaß ein Pygostyl (=Durch die Verschmelzung mehrerer Wirbel gebildeter Knochen am Ende der Wirbelsäule von Vögeln), das Archaeopteryx fehlte, der stattdessen einen lange Schwanzwirbelsäule hatte (Abb. 423).

Dazu kommt, dass Cratonavis einzigartige Merkmale (sog. Autapomorphien) besaß, die nicht in eine Evolutionsreihe hin zu den heutigen Vögeln passen: Die Schulterblätter und die Mittelfußknochen waren ungewöhnlich stark verlängert, so dass auch der vogeltypisch abstehende Hallux (großer Zeh) ziemlich lang war. Diese Ausprägungen werden als konvergente Bildungen angesehen; man kennt verlängerte Schulterblätter sonst bei nicht näher verwandten Ornithuromorphen* und verlängerte Mittelfußknochen beim Dromaeosauriden Balaur aus der Oberkreide (Li et al. 2023, 25, 26). Cratonavis könnte seine langen Zehen benutzt haben, um wie die heutigen Raubvögel zu jagen. Und die Ausbildung eines stark verlängerten Schulterblatts könnte das Fehlen eines verknöcherten Brustbeinkiels kompensiert haben, da es eine zusätzliche Fläche für die Befestigung des Brustmuskels (Pectoralis-Muskel) bietet (Li et al. 2023, 26).

Das komplette Merkmalsmosaik verkleinert insgesamt nicht eine vorhandene Lücke, sondern erfordert evolutionstheoretisch einen zusätzlichen Ast im hypothetischen Stammbaum (Familie Jinguofortisidae; vgl. Abb. 422).

Jinguofortis

Cratonavis wird zusammen mit der 2016 erstmals beschriebenen Gattung Jinguofortis und der Gattung Chongmingia in die neu aufgestellte Familie Jinguofortisidae gestellt. Auch Jinguofortis überraschte die Forscher mit einer ungewöhnlichen Merkmalskonstellation von theropoden- und vogeltypischen Merkmalen (Wang et al. 2016; 2018). Einerseits besaß diese Gattung ein Pygostyl und stark reduzierte Finger, andererseits Krallen an den Fingern der Flügel, ein bumerangförmiges, vermutlich starres Gabelbein und ein verschmolzener Schultergürtel (Schulterblatt und Rabenbein). Letzteres Merkmal erscheint zwar ungünstig für das Fliegen, weil es die Flexibilität für den Schlagflug einschränkt, dennoch waren die breiten, kurzen Flügel von Jinguofortis typisch für Vögel, die gut zwischen Bäumen manövrieren können. Vielleicht war eine bisher unbekannte Art des Fliegens verwirklicht. Der verschmolzene Schultergürtel (Schulterblatt und Rabenbein) ähnelt zwar der Situation bei einigen Theropoden-Dinosauriern, trotzdem eignet sich dieses Merkmal nicht als Beleg für eine stammesgeschichtliche Verbindung von Dinosauriern und Vögeln, weil beim über 20 MrJ älteren Archaeopteryx diese beiden Knochen nicht verschmolzen waren. Daher wird eine unabhängige (konvergente) Entstehung angenommen.

Wang et al. (2018, 10708) bemerken, dass Jinguofortis die bekannte Diversität (Vielfalt) früher Pygostylier (Vögel mit Pygostyl) vergrößere, und vermuten, dass Entwicklungs-Plastizität eine wichtige Rolle spielte und die mutmaßliche Evolution mosaikartig verlief. Die Jinguofortisidae trügen zum verbreiteten Vorkommen von Mosaik-Evolution bei (Wang et al. 2018, 10710).

Li et al. (2023, 24) stellen fest, dass diese Situation durch Cratonavis noch komplizierter werde. Die Unstimmigkeiten in den Merkmalsverteilungen haben mit dieser Gattung weiter zugenommen.

Evolutionstheoretische Deutung und die Alternative

Li et al. (2023, 20, 26) interpretieren den neuen Fossilfund so, dass er den „Einfluss von Mosaik-Evolution und biologischer Experimentierung“ im Flugverhalten widerspiegle. Die Vögel, die sich nahe am mutmaßlichen evolutionären Ursprung befinden, zeigten unterschiedliche Merkmale, mit denen sie den vermeintlich unterentwickelten Flugapparat kompensieren konnten, von denen einige bei heutigen Vögeln unbekannt seien. Mosaik-Evolution“ und „Experimentierung“ sind jedoch Fremdkörper in einem evolutionären Szenario. Denn Experimente sind absichtsvolle Unternehmungen zur Klärung von konkreten Fragestellungen; die gewählten Begriffe verschleiern einen evolutionstheoretisch unerwarteten Befund. Die Merkmalsverteilung passt nicht in ein hierarchisches eingeschachteltes System; daher müssen in großem Maße Konvergenzen angenommen werden, was als „Mosaik-Evolution“ bezeichnet wird. Aber warum und auf welchem Wege gelangt ein natürlicher, zukunftsblinder evolutionärer Prozess vielfach unabhängig zu ähnlichen Konstruktionen? Und was soll es bedeuten, dass Mosaik-Evolution einen „Einfluss“ gehabt habe?

Noch weiter geht Puiu (2023) in seinem Newsbeitrag. Die Evolution verlaufe auf einem verschlungenen Pfad, auf dem sie oft einen Schritt vorwärts, aber zwei Schritte zurück machen müsse. Der Dino-Vogel-Mischmasch sei nicht völlig unerwartet. Es gebe immer mehr Belege dafür, dass der Übergang von den Theropoden zu den Vögeln weder glatt noch nahtlos war, sondern durch zahlreiche Wiederholungen und evolutionäre Experimente erfolgte, die zu einer Reihe primitiver Vögel mit mosaikartigen Merkmalen führten.

Genau das würde man aber wegen der Richtungslosigkeit evolutionärer Mechanismen nicht erwarten, weil diese Situation mit zahlreichen Konvergenzen einhergeht – ein Befund, der früheren evolutionstheoretischen Erwartungen diametral entgegensteht. Doch nun wird der Bock zum Gärtner gemacht: Unerwartete Befunde werden kurzerhand als Erwartungen umgedeutet – ohne jede Begründung. Man könnte auch sagen: Weil man schon öfter nicht passende Funde hatte, erwartet man solche auch zukünftig, bezeichnet diese dann aber neuerdings als Bestätigungen der eigenen Perspektive.

Es gibt allerdings eine konsistente alternative Deutung: die freie Verwendbarkeit und Kombinierbarkeit von Merkmalen. Diese Freiheit besitzt nur ein Schöpfer. Evolution ist dagegen an einen natürlichen Prozess und an natürliche Mechanismen gebunden. Ein evolutionärer Prozess ohne eingebaute Ziele lässt aber – selbst wenn er überhaupt funktionieren würde – keine ähnlichen komplexen Merkmale erwarten, die mehrfach und unabhängig voneinander auftreten.

Quellen

Brusatte SL, Lloyd GT, Wang SC & Norell MA (2014) Gradual assembly of avian body plan culminated in rapid rates of evolution across the dinosaur-bird transition. Curr. Biol. 24, 2386–2392.

Elzanowski A & Wellnhofer P (1996) Cranial morphology of Archaeopteryx: evidence from the seventh skeleton. J. Vert. Paleont. 16, 81–94.

Elzanowski A & Wellnhofer P (1995) The skull of Archaeopteryx and the origin of birds. Archaeopteryx 13, 41–46.

Junker R (2019) Sind Vögel Dinosaurier? Eine kritische Analyse fossiler Befunde. Internetartikel. https://www.wort-und-wissen.org/wp-content/uploads/b-19-4_dinos-voegel.pdf

Li Z, Wang M, Stidham TA & Zhou Z (2023) Decoupling the skull and skeleton in a Cretaceous bird with unique appendicular morphologies. Nat. Ecol. Evol, doi: 10.1038/s41559-022-01921-w.

Manz A (2023) Urvogel mit Dino-Kopf entdeckt. https://www.scinexx.de/news/biowissen/urvogel-mit-dino-kopf-entdeckt/.

Martin LD (1985) The relationship of Archaeopteryx to other birds. In: Hecht MK, Ostrom JH, Viohl G & Wellnhofer P (Hg) The beginnings of birds. Eichstätt: Freunde Jura-Museums, pp. 177–183.

Puiu T (2023) This weird primitive bird with a T. rex head has scientists puzzled. https://www.zmescience.com/science/news-science/this-weird-primitive-bird-with-a-t-rex-head-has-scientists-puzzled/.

Wang M, Wang X, Wang Y & Zhou Z (2016) A new basal bird from China with implications for morphological diversity in early birds. Sci Rep. 6:19700, doi: 10.1038/srep19700.

Wang M, Stidham TA & Zhou Z (2018) A new clade of basal Early Cretaceous pygostylian birds and developmental plasticity of the avian shoulder girdle. Proc. Natl. Acad. Sci. 115, 10708–10713.

Wellnhofer P (2009) Archaeopteryx. The icon of evolution. München: Pfeil.


Autor dieser News: Reinhard Junker, 31.03.23

 
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