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02.05.23 Das Monster, das in kein Schema passtEs sieht aus wie ein Phantasiewesen und seine Merkmalkombination hat es in sich: Das Tully-Monster (Tullimonstrum gregarium) lässt sich bis heute nicht schlüssig in das System der Lebewesen einfügen – nach einer neuen Studie gilt dies mehr denn je. Es ist ein Paradebeispiel für eine freie Kombinierbarkeit von tierklassen- und sogar tierstammübergreifenden Merkmalen. Eine solche Freiheit besitzt allerdings nur ein Schöpfer. Zu den vielzitierten Belegen für Evolution gehört das eingeschachtelte System der Lebewesen. Verschiedene Arten lassen sich auf der Basis von Merkmalsübereinstimmungen zu Gattungen zusammenfassen (z. B. Katzen), Gattungen zu Familien (z. B. Katzenartige), Familien zu Ordnungen (z. B. Raubtiere), Ordnungen zu Klassen (z. B. Säugetiere) und Klassen zu Stämmen (z. B. Chordatiere; vgl. Abb. 366). Ein eingeschachteltes System lässt sich problemlos in eine Baumdarstellung übersetzen, die sich evolutionstheoretisch wiederum im Sinne der gemeinsamen Abstammung aller Lebewesen interpretieren lässt. Bei manchen Tiergruppen funktioniert das tatsächlich recht gut. Aber mit zunehmenden Kenntnissen über die Verteilung von Merkmalen bei verschiedenen Arten und höheren Taxa (umfassenderen Gruppen) wuchs die Anzahl von Merkmalswidersprüchen, insbesondere unter fossil bekannten Formen, aber auch bei heute lebenden Gruppen. In solchen Fällen erweisen sich netzartige Darstellungen von Merkmalsbeziehungen als deutlich widerspruchsärmer als die allgemein üblichen Baumdiagramme. Das aber widerspricht dem genannten Evolutionsbeweis und evolutionstheoretischen Vorhersagen. Die Folge ist aber in der Regel nicht, dass deshalb Evolution als Rahmentheorie in Frage gestellt wird. Vielmehr sucht man nach neuen, unbekannten Mechanismen, die zur unerwarteten Merkmalsverteilung geführt haben sollen. Evolution als Rahmentheorie steht nicht zur Disposition, eine Falsifizierungsmöglichkeit wird gar nicht erst in Betracht gezogen. Nicht zu vermeiden ist aber die Schlussfolgerung, dass damit ein wissenschaftlicher Beleg für Evolution – das eingeschachtelte System – geschwächt wird. Tullimonstrum gregarium – das „Tully-Monster“ Ein extremes Beispiel dafür, dass die Merkmalskombination einer Art in kein evolutionäres Schema passt, ist das Tully-Monster (Tullimonstrum gregarium). Seinen Namen hat dieses nur fossil erhaltene Tier nicht umsonst. Man könnte es leicht für ein Phantasiewesen halten, wenn man eine der zahlreichen Rekonstruktionen betrachtet (Abb. 424). Tatsächlich aber wurden Tausende von Exemplaren entdeckt – ausschließlich in der oberkarbonischen Mazon-Creek-Formation (Illinois/USA; auf ca. 290 Millionen radiometrische Jahre datiert). Das Tier hatte einen spindelförmigen Körper und war ca. 30–35 cm lang, manche Individuen waren aber deutlich kleiner. Es besaß ein Paar vertikaler Bauchflossen am Schwanzende seines Körpers, einen langen Rüssel (Proboscis), der in einer Art Maul endete, das bis zu je acht kleine scharfe Zähne an jedem „Kiefer“ trug, was auf eine räuberische Lebensweise hinweist. Sehr ungewöhnlich sind auch die dünn gestielten Augen. Entlang des Körpers ist eine Segmentierung zu erkennen – auch in der Kopfregion vor den Augen, was ebenfalls ungewöhnlich ist. Hartteile wurden nicht nachgewiesen. Es wundert nicht, dass die Einordnung des im Jahr 1966 erstmals beschriebenen Tieres ins System der Tiere Probleme bereitet und bis heute kontrovers diskutiert wird. Sein Körperbau unterscheidet sich von allen anderen bekannten Tierbauplänen. Tullimonstrum wurde mit Schnecken (Gastropoda), mit der ebenfalls ungewöhnlichen kambrischen Gattung Opabinia mit unklarer systematischer Stellung, mit fossilen Conodonten („Kegelzähner“), Vielborstern (Polychaeta-Würmer), Schnurwürmern (Nemertea) und Nektocariden (Gruppe der Kopffüßer) verglichen (Mikami et al. 2023, 1). Ein Wissenschaftlerteam glaubte, eine Chorda (langer, dünner und biegsamer Stab im Rückenbereich), ein dreiteiliges Gehirn, Kiementaschen, Muskelsegmente wie bei Neunaugen und anderen Chordatieren sowie Zähne, die denen von Neunaugen und Schleimaalen ähneln, nachgewiesen zu haben (McCoy et al. 2016). Dieses Team schlug vor, Tullimonstrum als ursprüngliches Wirbeltier zu klassifizieren. Daran wurde postwendend Kritik geäußert (Sallan et al. 2017). Wichtige wirbeltiertypische Merkmale wie Ohrkapseln und Körperpigmentierung würden fehlen; es sei bekannt, dass viele Merkmale konvergent (evolutionär unabhängig) auftreten und daher phylogenetisch (in Bezug auf die Stammesgeschichte) nicht aussagekräftig seien. Durch eine chemische Analyse der Fossilien wurden dann allerdings Überreste von Proteinen gefunden, aus denen das Keratin und Kollagen von Wirbeltieren besteht (McCoy et al. 2020), was die Forscher wiederum als Hinweis auf eine Wirbeltierverwandtschaft werteten. Eine aktuelle Untersuchung von Mikami et al. (2023) erbrachte nun neue Befunde, die eine Entscheidung in dieser Kontroverse herbeiführen könnten. Mikami und sein Team analysierten 153 fossile Exemplare des Tully-Monsters mithilfe eines hochauflösenden 3D-Laserscanners und mittels Mikro-Röntgentomografie. Dabei stellte sich heraus, dass sich die von McCoy et al. (2016) beschriebenen, vermeintlich wirbeltierähnlichen Merkmale (dreigeteiltes Gehirn, segmentierte Muskeln und Strahlenflossen) deutlich von Wirbeltieren unterscheiden. „Unsere Analysen […] deuten auf das Vorhandensein von Segmenten in der präoptischen Region und das Fehlen von Tektalknorpeln [Knorpel im Bereich des Gehirns], wirbeltierähnlichen Gehirnen, Kiemendeckeln und Flossenstrahlen hin, was Zweifel an der Wirbeltierzugehörigkeit von Tullimonstrum aufkommen lässt“ (Mikami et al. 2023, 7). Die vordere Körperregion zeigte auch im Kopf und im langen Mundfortsatz (Proboscis) eine Segmentierung, was untypisch für Wirbeltiere, dagegen typisch für Wirbellose ist. Zudem unterscheiden sich die schmalen, scharfen Zähne des Rüssels von den Hornzähnen von Neunaugen und Schleimaalen, zu deren Verwandtschaft Tullimonstrum von McCoy et al. (2016) gestellt worden waren. Die Forscher kommen zum Schluss, dass Tullimonstrum weder ein Wirbeltier war noch mit ihnen enger verwandt ist. Stattdessen schlagen sie vor, Tullimonstrum entweder zu den nicht-wirbeltierartigen Chordatieren oder zu den Urmundtieren (Protostomier) zu stellen. In letzterem Fall müsste man allerdings einen radikal veränderten Bauplan mit einzigartigen Merkmalen annehmen (Mikami et al. 2023, 10) und damit eine isolierte Stellung im System der Lebewesen. Die Autoren diskutieren die Merkmalsbeziehungen von Tullimonstrum zu unterschiedlichen Tiergruppen. Der Einordnung als Stammchordat mit Segmentierung auch im Kopfbereich vor den Augen steht allerdings das Fehlen eines Nachweises einer mit den Pharyngealbögen (Schlundbögen) verbundenen Struktur in Tullimonstrum entgegen. Tullimonstrum könnte diese Struktur allenfalls sekundär verloren haben (Mikami et al. 2023, 10). Die Autoren halten auch eine Nähe von Tullimonstrum zum weiteren Verwandtschaftsbereich der Gliederfüßer (Panarthropoden) für unwahrscheinlich, denn die Körpersegmentierung ist anders als die sklerotisierten (ausgehärteten) Segmente der Gliederfüßer-Fossilien aus Mazon Creek. Die Körpersegmentierung von Tullimonstrum unterscheidet sich auch von der eines untersuchten Stummelfüßers (Onychophora) aus Mazon Creek. Eine nähere Verwandtschaft von Tullimonstrum komme daher nur außerhalb der Panarthropoda in Frage. Doch auch eine Verwandtschaft mit Ringelwürmern (Anneliden), Weichtieren (Mollusken) und Schnurwürmern (Nemertea) sei unwahrscheinlich, da ihnen eine vergleichbare Körpersegmentierung wie Tullimonstrum fehlt. Zwar besitzen Anneliden und Nemerteen sich wiederholende Strukturen im Rumpf, sie erstecken sich aber nicht wie bei Tullimonstrum auf die Kopfregion. Außerdem unterscheiden sich die Rüssel von Anneliden und Nemerteen von denen von Tullimonstrum dadurch, dass sie einklappbar oder einziehbar sind. Darüber hinaus haben Mollusken im Allgemeinen keine segmentale Wiederholung in ihren Körpern – und soweit das doch der Fall ist (bei den Polyplacophora und Monoplacophora), sind sie nicht mit denen von Tullimonstrum vergleichbar, da ihnen klare Grenzen fehlen (Mikami et al. 2023, 11). Fazit Es bleibt nach Mikami et al. (2023, 12) dabei: Der einzigartige Körperbau von Tullimonstrum ist kaum mit dem eines anderen bekannten Tieres vergleichbar. Eine eindeutige systematische bzw. phylogenetische Zuordnung des Tully-Monsters ist weiterhin unklar. Die neuen Untersuchungen, die bisher nicht bekannte Details sichtbar gemacht haben, unterstreichen die Einzigartigkeit von Tullimonstrum. Die Merkmalskombination dieses merkwürdigen Tieres ist ein Paradebeispiel für eine freie Kombinierbarkeit von tierklassen- und sogar tierstammübergreifenden Merkmalen. Eine solche Freiheit besitzt aber nur ein Schöpfer. Quellen Mikami T, Ikeda T et al. (2023) Three-dimensional anatomy of the Tully monster casts doubt on its presumed vertebrate affinities. Palaeontology 62, e12646; doi:10.1111/pala.12646. McCoy VE, Saupe EE et a. (2016) The ‘Tully monster’ is a vertebrate. Nature 532, 496–499. Sallan L, Giles S et al. (2017) The ‘Tully Monster’ is not a vertebrate: characters, convergence and taphonomy in Palaeozoic problematic animals. Palaeontology 60, 149–157. McCoy VE, Wiemann J et al. (2020) Chemical signatures of soft tissues distinguish between vertebrates and invertebrates from the Carboniferous Mazon Creek Lagerstätte of Illinois. Gebiology 18, 560–565.
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