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30.09.24 Meeresschildkröten – ein Grundtyp, der der Evolution trotzte?Studien an Mischlingen (Hybriden) zeigen, dass alle Meeresschildkröten (Cheloniidae) einen gemeinsamen Grundtyp bilden. Obwohl seit Beginn der Artaufspaltungen 40 bis 60 Millionen radiometrische Jahre (MrJ) vergangen sein sollen, sind die meisten Arten der Meeresschildkröten bis heute genetisch kompatibel. Dies weckt Fragen an der grundsätzlichen Veränderungsfähigkeit durch Darwin‘sche Evolution.
Ein Überblick über die Meeresschildkröten Meeresschildkröten sind faszinierende Tiere, deren Körper in jeder Hinsicht für das gemächliche Gleiten durch die Ozeane gebaut ist. Dazu passt auch ihr abgeflachter, stromlinienförmiger Panzer, der am Rücken nicht komplett verknöchert ist. Die Fortbewegung erfolgt mittels Flossen. Je nach Aktivitätslevel müssen die Tiere alle 5 Minuten bis 7 Stunden auftauchen. Werden sie durch Fischernetze daran gehindert, ertrinken sie. Meeresschildkröten sind mit Salzdrüsen zur Abgabe von überschüssigem Salz und mit einer erstaunlichen Orientierungsfähigkeit (wahrscheinlich mittels Sonnenlicht und Erdmagnetfeld) ausgestattet, so dass sie den heimischen Strand zur Eiablage auch nach vielen Jahren noch wiederfinden. Sonst halten sie sich nur im Wasser auf, um dort nach wirbellosen Tieren und z. T. in höherem Alter auch nach pflanzlicher Nahrung zu suchen.[1] Mit Meeresschildkröten im weiteren Sinn meinen Biologen die Überfamilie Chelonioidea. Zu diesen gehören mindestens sechs Arten der Meeresschildkröten (Cheloniidae) im engeren Sinn und die Lederschildkröte (Dermochelys coriacea), die einzige heute lebende Art aus der Familie der Lederschildkröten (Dermochelyidae). Die bis zu 700 kg schweren Lederschildkröten sind besonders gut an die Hochsee angepasst, auch wenn sie manchmal an Nordsee-Strände angespült werden (Wurche 2023). Sie erreichen Geschwindigkeiten von ca. 35 km/h und können in ca. 85 Minuten bis zu 1200 Meter tief tauchen (ebd.). Die Überfamilie der Chelonioidea (inkl. Lederschildkröten) stammt nach evolutionären Vorstellungen aus dem Erdmittelalter – und zwar je nach Autoren aus Oberjura (Vilaça et al. 2021), Mitteljura (Tong et al. 2013, Fig. 6) oder Oberkreide (vgl. Gentry et al. 2019). Die fossile Schildkröte Desmatochelys padillai ist mit über 120 MrJ Alter über 25 MrJ älter als die bis dahin ältesten bekannte Schildkröte (Santanachelys gaffneyi) aus der Überfamilie der Chelonioidea (Cadena & Parham 2015, 1–3; vgl. Gentry et al. 2019[2]).[3] Die Trennung zwischen Dermochelyidae und Cheloniidae soll nach molekularen Uhren basierend auf mitochondrialer DNA und auf wenigen Zellkern-Loci vor ca. 100 MrJ geschehen sein (Vilaça et al. 2021). Alle Chelonioidea besitzen 56 Chromosomen (ebd.), haben also denselben Karyotyp (Anzahl und Größe der Chromosomenpaare) (Soares et al. 2017). Meeresschildkröten teilen miteinander und mit allen Schildkröten (Testudines) ihre Syntenie (dieselbe Anordnung der Genorte), was „wahrscheinlich die Konsequenz von geringen Mutationsraten und Evolutionsraten bei Schildkröten“ ist (Vilaça et al. 2021; vgl. Soares et al. 2017). Abb. 467 Links: Die große Lederschildkröte (Dermochelys coriacea) gehört zur Familie der Lederschildkröten (Dermochelyidae). Rechts: Diese sechs Arten bilden die Familie der Meeresschildkröten (Cheloniidae). Sie heißen (v.l.o.n.r.u.): Grüne Meeresschildkröte (Chelonia mydas), Unechte Karettschildkröte (Caretta caretta), Echte Karettschildkröte (Eretmochelys imbricata), Oliv-Bastardschildkröte (Lepidochelys olivacea), Karibische Bastardschildkröte (Lepidochelys kempii) und Wallriffschildkröte (Natator depressus). (Wikimedia: Hans Joachim Dudeck; CC BY-SA 3.0: Brocken Inaglory / Strobilomyces / Lyndie Malan; Archiv Dr. Christoph Bushe, CC BY-SA 3.0 de)
Hybridisierungen und Konsequenzen für Grundtyp- und Evolutionsbiologie Immerhin fünf der sechs Schildkröten-Arten innerhalb der Cheloniidae hybridisieren und pflanzen sich gemeinsam fort, wie sowohl morphologische als auch genetische Analysen ergeben.[4] Die Fähigkeit, fruchtbare Hybriden (Mischlinge) hervorzubringen, basiert nach López-Barrera et al. (2016, 147) auf „langsamer chromosomaler und anatomischer Evolution“. Die Hybriden kommen in überlappenden Verbreitungsgebieten der verschiedenen Arten in vielen Regionen der Welt vor (Vilaça et al. 2021). Die Cheloniidae-Hybriden zwischen Grüner Meeresschildkröte und Echter Karettschildkröte werden in Brasilien häufig angetroffen (ca. 35 Prozent der Nester) und reproduzieren sich genauso erfolgreich wie ihre Eltern (Soares et al. 2018, 1). Sonst sind Hybriden unter der Familie Cheloniidae nach Soares (2020) eher selten (vgl. James et al. 2004), es hybridisieren aber fast alle Arten untereinander – ausgenommen die Wallriffschildkröte. Dabei werden auch die Grenzen von Unterfamilien überschritten, da die Art Chelonia mydas (Grüne Meeresschildkröte; inkl. C. agassizii) von Deef (2023, 17f) zur Unterfamilie der Chelonini gezählt wird und trotzdem mit Arten der anderen Unterfamilie Carettini hybridisiert, zu der die restlichen Cheloniidae-Arten gehören. Damit bilden mindestens alle Cheloniidae einen gemeinsamen Grundtyp (im Rahmen der Schöpfungslehre als geschaffene Art interpretiert). Da aber die die molekulargenetische Phylogenie (Stammesgeschichte) der Meeresschildkröten nicht ganz eindeutig ist, und die Grüne Meeresschildkröte in einem Fall sogar mit der Lederschildkröte gruppiert (Deef 2023, Fig. 4), könnte eventuell auch die Familie der Lederschildkröten zum selben Grundtyp gehören. Abb. 468 Phylogenetische Analysen der Schildkröten basierend auf molekulargenetischen Studien von Deef (2003, Fig. 2–5) und Vilaça et al. (2021, Fig. 2). Weiterhin bringt Deef (2023) phylogenetische Hinweise auf eine Divergenzzeit der beiden genannten Unterfamilien von 63 MrJ – der Beginn der Divergenz wäre also kurz nach dem Aussterben der Dinosaurier anzusetzen. Diese Zahl findet sich häufiger in der Literatur (so auch bei Vilaça et al. 2012, 2). Karl et al. hatten bereits im Jahr 1995 von einer Divergenzzeit der Unterfamilien von vielleicht 50 bis 70 MrJ gesprochen. Auch Arantes et al. (2020) geben 63 MrJ Divergenzzeit für die Hybriden aus den beiden verschiedenen Unterfamilien an (vgl. auch Vilaça im Horizon Magazin 2021). Bowen & Karl (2007, Tab. 3) geben „> 50“ MrJ zwischen den beiden Unterfamilien an (vgl. auch López-Barrera et al. 2016, 147; James et al. 2004). Bowen & Karl (2007) ergänzen, dass die Lederschildkröte eine bemerkenswerte Art sei, da sie trotz ihres Alters von über 100 MrJ keine große genetische Variation zeigt.[5] In Bezug auf die Cheloniidae sprechen sie von 50 bis 10 MrJ Divergenzzeit. Vilaça et al. (2021, Fig. 2, Tab. 1) haben sich ebenfalls in einer neuen Studie mit den Divergenzzeiten der Cheloniidae beschäftigt und acht verschiedene Analysen durchgeführt und diese mit zwei weiteren aus der Literatur verglichen. Die so errechneten Divergenzzeiten schwanken teilweise um mehrere Zehnmillionen Jahren (Vilaça et al. 2021, 6180), zeigen aber alle, dass es sich aus evolutionärer Perspektive um alte Aufspaltungszeitpunkte handelt. Selbst unter der Voraussetzung, dass die Kalibrierungen von Vilaça et al. (2021) korrekt waren, überbrücken alle drei Carettini-Hybriden mit der Grünen Meeresschildkröte im Mittelwert ca. 44 MrJ Divergenzzeit (vgl. auch Brito et al. 2020 und Vilaça et al. 2022). In jedem Fall zeigen die Hybriden, dass eine genetische Kompatibilität zwischen den Arten besteht, die sich mindestens seit über 40 MrJ Jahren auseinander entwickelt haben. Abb. 464 Tabelle: Zehn verschiedene genetische Analysen an der mitochondrialen DNA (mt-DNA) und der der Kern-DNA (Exons) ergaben nach Vilaça et al. (2021, Tab. 1) folgende grobe Divergenzzeiten. Die Studien mt-DNA 5 und 6 sind ältere Studien ohne die von Vilaça et al. vorgenommene Kalibrierung, daher wurden sie kursiv gesetzt. (Eigene Darstellung nach Vilaça et al. 2021, Tab. 1)
Fazit Ein Divergenzzeit von ca. 44 MrJ oder gar über 60 MrJ (je nach Studie), nach der dennoch Hybridisierungen möglich sind, galt bis vor Kurzem als etwas Besonderes. Besonders hohe Divergenzzeiten bei wenigen Frosch- und Vogelhybriden liegen bei 21 bzw. 22 MrJ; während man bei Säugetier-Hybriden in der Regel nur 2 bis 3 MrJ Divergenzzeit angibt (Prager & Wilson 1975; vgl. Vilaça et al. 2022). Nach evolutionstheoretischen Vorstellungen hat sich also sehr lange Zeit das Erbgut der Meeresschildkröten nur so wenig verändert, dass heute noch mehrere Arten genetisch als Hybriden voll kompatibel sind. Das wirft die generelle Frage auf, was Darwin‘sche Evolution dann überhaupt zu leisten vermag (vgl. dazu auch Behe 2019). Schließlich haben Meeresschildkröten trotz großer Umweltveränderungen (z. B. hinsichtlich Temperatur und Kohlenstoffdioxidgehalt) der Meere im Tertiär (Paläogen/Neogen) und Quartär nahezu unverändert überstanden.
Literatur Arantes LS et al. (2020) Genomic evidence of recent hybridization between sea turtles at Abrolhos Archipelago and its association to low reproductive output. Sci. Rep. 10, 12847. Behe MJ (2019) Darwin Devolves. The New Science about DNA that challenges Evolution. New York: HarperOne. Bowen BW & Karl SA (2007) Population genetics and phylogeography of sea turtles. Mol. Ecol. 16, 4886–4907. Brito C et al. (2020) Combined use of mitochondrial and nuclear genetic markers further reveal immature marine turtle hybrids along the South Western Atlantic. Genetics and Molecular Biology 43, 2, e20190098. Cadena EA & Parham JF (2015) Oldest known marine turtle? A new protostegid from the Lower Cretaceous of Colombia. PaleoBios 32, 1–42. Deef KEM (2023) Molecular phylogenetics of some endangered turtles reveals new close genetic relationships. Int. J. Biol. Chem. 16, 1. Gaffney ES et al. (2011) Evolution of the Side-Necked Turtles: The Family Podocnemididae. Bull. Am. Mus. Nat. Hist. 350, 1–237. Gentry AD, Ebersole JA & Kiernan CR (2019) Asmodochelys parhami, a new fossil marine turtle from the Campanian Demopolis Chalk and the stratigraphic congruence of competing marine turtle phylogenies. R. Soc. open sci. 6, 191950. Horizon Magazine (2021) Turtle hybrids and conservation, vom 01.04.2021, https://www.thenakedscientists.com/articles/science-features/turtle-hybrids-and-conservation. James MC, Martin K & Dutton PH (2004) Hybridization Between a Green Turtle, Chelonia mydas, and Loggerhead Turtle, Caretta caretta, and the First Record of a Green Turtle in Atlantic Canada. The Canadian Field-Naturalist 118, 4, 579–582. Joyce W (2014) A Review of the Fossil Record of Turtles of the Clade Pan-Carettochelys. Bull. Peabody Mus. Nat. Hist. 55, 3–33. Joyce W (2016) A Review of the Fossil Record of Turtles of the Clade Pan-Chelydridae. Bull. Peabody Mus. Nat. Hist. 57, 21–56. Karl SA, Bowen BW & Avise JC (1995) Hybridization Among the Ancient Mariners: Characterization of Marine Turtle Hybrids With Molecular Genetic Assays. J. Hered. 86, 262–268. López-Barrera EA et al. (2016) Genetics and Conservation of Sea Turtles. In: Rguez-Baron JM, Lara-Uc MM & Roismena-Rodriguez RR (ed.) Advances in Research Techniques for the Study of Sea Turtles. Nova Science Publishers. New York, pp. 119–163. Prager EM & Wilson AC (1975) Slow evolutionary loss of the potential for interspecific hybridization in birds: a manifestation of slow regulatory evolution. PNAS 72, 200–204. Soares LS (2020) How Rare Are Hybrid Sea Turtles, Really? vom 08.07.2020, https://www.seaturtlestatus.org/articles/how-rare-are-hybrids. Soares LS et al. (2017) Comparison of reproductive output of hybrid sea turtles and parental species. Mar. Biol. 164, 9. Soares LS et al. (2018) Effects of hybridization on sea turtle fitness. Conserv. Genet. 19, 1311–1322. Soares LS et al. (2021) Reproductive output, foraging destinations, and isotopic niche of olive ridley and loggerhead sea turtles, and their hybrids, in Brazil. Endanger Species Res. 44, 237–251. Tong H, Li L & Ouyang H (2013) A revision of Sinaspideretes wimani Young & Chow, 1953 (Testudines: Cryptodira: Trionychoidae) from the Jurassic of the Sichuan Basin, China. Geol. Mag. 151, 600–610. Vilaça ST et al. (2012) Nuclear markers reveal a complex introgression pattern among marine turtle species on the Brazilian coast. Mol. Ecol. 21, 4300–4312. Vilaça ST et al. (2021) Divergence and hybridization in sea turtles: Inferences from genome data show evidence of ancient gene flow between species. Mol. Ecol. 30, 6178–6192. Vilaça ST et al. (2022) Evidence of backcross inviability and mitochondrial DNA paternal leakage in sea turtle hybrids. Mol. Ecol. 32, 628–643. Wurche B (2023) Lederschildkröte in der Nordsee, vom 06.09.2023, https://scilogs.spektrum.de/meertext/lederschildkroete-in-der-nordsee/. [1] Vgl. für den Absatz: https://www.spektrum.de/lexikon/biologie/schildkroeten/59221, https://www.spektrum.de/lexikon/biologie/lederschildkroeten/38624 und https://blog.wwf.de/das-gefaehrliche-leben-der-meeresschildkroeten/ (am 16.07.2024). [2] Sie ordnen Desmatochelys padillai als Protostegida (ausgestorbene Familie) innerhalb der Pan-Chelonioidea ein; die gesamte Gruppe enthält neben den heutigen Arten fast 30 fossile Arten (ebd., Fig. 2). Weiterhin geben sie Art Eosphargis breineri aus dem Eozän als fossiles Maximum der Stamm-Lederschildkröten (Dermochelys) und Ctenochelys stenoporus aus der Oberkreide für die Stamm-Cheloniidae an (ebd., Fig. 3). [3] Es gibt auch unter anderen Schildkröten-Familien „lebende Fossilien“ aus dem Erdmittelalter: Tong et al. (2013, Fig. 6) geben an: Alligatorschildkröten (Chelydridae) seit der (frühen) Unterkreide (nach Joyce 2016, 21: fossile Stamm-Chelydridae seit Oberkreide), Papua-Weichschildkröten (Carettochelidae; fossile Stammarten ab mittlerem Jura: Joyce 2014, Fig. 4) sowie Weichschildkröten (Trionychidae) seit dem mittleren Jura. Auch Testudinoidea (Sumpfschildkröten, Landschildkröten und Großkopfschildkröte) und Kinosternoidea (Schlammschildkröten und Tabascoschildkröte) stammen als Überfamilien wohl aus dem Mesozoikum (Tong et al. 2013, Fig. 6). Und Gaffney et al. (2011, 5) geben an, dass auch die Halswender-Schildkröten-Familie Podocnemididae fossil seit der Oberkreide bekannt ist. [4] Hybridisierung von Cheloinidae (nach Brito et al. 2020, Tab. 1 und Bowen & Karl 2007, Tab. 3): Caretta caretta (Unechte Karettschildkröte) x Lepidochelys kempii (Karibische Bastardschildkröte) / Lepidochelys olivacea (Oliv-Bastardschildkröte) / Chelonia mydas (Grüne Meeresschildkröte) / Eretmochelys imbricata (Echte Karettschildkröte); Eretmochelys imbricata (Echte Karettschildkröte) x Chelonia mydas (Grüne Meeresschildkröte) / Lepidochelys olivacea (Oliv-Bastardschildkröte); Chelonia mydas (Grüne Meeresschildkröte) x Lepidochelys olivacea (Oliv-Bastardschildkröte). [5] Keine deutliche Trennung geografischer Gruppen und eine „extrem flache phylogenetische Topografie“ (ebd.).
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