Evolution: Biologie |
Experten: Evo-Devo |
InhaltIn diesem Artikel werden zunächst die wichtigsten Befunde zusammengestellt, die zur Entwicklung des Evo-Devo-Ansatzes geführt haben. Es folgt eine Darstellung der Grundzüge von Evo-Devo-Hypothesen, die anschließend kritisch auf ihre Leistungsfähigkeit hin beurteilt werden. |
Was bedeutet „Evo-Devo“?„Evo-Devo" steht für „evolutionary developmental biology“ und mithin für eine Synthese von Erkenntnissen der Erforschung der Entwicklungsbiologie (Ontogenesen (=Individualentwicklung) der Lebewesen) und der kausalen Evolutionsforschung. Ziel ist zum einen der Zugang zu den seit langem gesuchten Zusammenhängen zwischen Erbgut (Genotyp) eines Lebewesens und seiner Körpergestalt (Phänotyp). Zum anderen sollen die Vorgänge während der Ontogenese einen Schlüssel für ein besseres bzw. vollständiges Verständnis evolutionärer Prozesse bereithalten, insbesondere für die Erklärung von Makroevolution. Kennzeichnend für Evo-Devo-Forscher ist die Auffassung, dass der Neodarwinismus bzw. die Synthetische Evolutionstheorie („Modern Synthesis“, hier synonym gebraucht) den evolutionären Wandel nicht vollständig erklären kann. Manche Evo-Devo-Forscher formulieren die Defizite des Neodarwinismus schärfer und halten wesentliche Fragen der Entstehung evolutionärer Neuheiten für ungeklärt (zu „evolutionären Neuheiten vgl. den Artikel Mikro- und Makroevolution). Evo-Devo-Forscher verbindet die Hoffnung, dass die (ihrer Meinung nach) ungelösten Fragen der Makroevolution durch die neueren Erkenntnisse der Ontogenese-Forschung gelöst werden können. Evo-Devo ist zur Zeit ein Sammelbecken unterschiedlicher Ansätze und Versuche, methodische und inhaltliche Aspekte der Embryologie in einer neuen Evolutionstheorie zu integrieren. Dabei kann man drei Ansätze unterscheiden (nach Laubichler 2007, 13f.): „Evo-Devo“ steht für die Beschreibung von entwicklungsbiologischen Phänomenen aus einem evolutionären Blickwinkel (z. B. Ursprung und Veränderung der Entwicklungssysteme). Unter „Devo-Evo“ werden Versuche zusammengefasst, Probleme der phänotypischen Evolution durch Entwicklungsphänomene und -prozesse zu lösen (constraints, Homologie, das Entstehen von neuen Merkmalen u. a.). Schließlich wird die Evolution und Abwandlung von ontogenetischen Programmen unter „developmental evolution“ subsummiert. Der Einfachheit halber werden in diesem einführenden Artikel alle Aspekte unter dem gängigsten Kürzel „Evo-Devo“ zusammengefasst. Anders als Evo-Devo behauptet der klassische Neodarwinismus (Synthetische Evolutionstheorie), die wesentlichen Fragen der kausalen Evolutionsforschung längst beantwortet zu haben. Mikroevolutiver Wandel (vgl. Mikro- und Makroevolution) und Artbildung seien verstanden und Makroevolution sei nichts anderes als eine fortgesetzte Mikroevolution über große Zeiträume (Amundson 2005, 166). Das Erklärungsschema „Zufallsmutation (genetische Ebene) und Auslese (phänotypische Ebene)" wird als ausreichend für den ganzen Formenwandel betrachtet (Abb. 333). Der genaue Weg vom Genotyp zum Phänotyp wird für das Verständnis des evolutiven Wandels als irrelevant betrachtet (Amundson 2005, 166; Stotz 2005, 349). Kennzeichnend für den Neodarwinismus ist auch eine gradualistische Sicht der Evolution (Salazar-Ciudad & Jernvall 2005, 619). Im linken Teil von Abb. 334 sind einige wichtige Positionen der Synthetischen Evolutionstheorie zusammengestellt. Unter „Evo-Devo“ werden im einzelnen recht verschiedene Evolutionsmechanismen diskutiert. In vielen Artikeln kristallisieren sich jedoch zwei Aspekte besonders heraus: 1. Evolution beruht weniger auf dem Erwerb neuer Gene und mehr auf neuartiger Nutzung vorhandener Gene. 2. Epigenetische Vorgänge, also der Weg vom Erbgut zur äußeren Gestalt (vom Genotyp zum Phänotyp) sind der Vorreiter des evolutiven Wandels, nicht Änderungen im Erbgut. Darauf wird weiter unten näher eingegangen. |
Anlässe für Evo-DevoFlexibilität embryologischer Merkmale Die Merkmale der Lebewesen sind das Ergebnis verschachtelter ontogenetischer Entwicklungswege, die miteinander in mehr oder weniger enger Wechselwirkung stehen. Daher nahm man früher an, dass frühere ontogenetische Entwicklungsstadien konservativer sind als spätere (von Baers Regel). Denn die Erwartung lag nahe, dass Mutationen in frühen Stadien wegen der Verflechtungen der ontogenetischen Entwicklungswege zu viele schädliche „Nebenwirkungen“ haben müssten, um sich durchsetzen zu können. Daher sollten nur die späteren Stadien nennenswert durch Evolution veränderbar sein. Diese Sicht läuft darauf hinaus, dass Evolution im Wesentlichen durch Hinzufügung neuer Merkmale erfolgt – eine Sichtweise, die gut zum Biogenetischen Grundgesetz passt: die Ontogenese wiederholt danach in Kurzform die Stammesgeschichte (Phylogenese); Merkmale werden bevorzugt in späteren Ontogenese-Stadien (= terminal) hinzugefügt und die Ontogenesen werden im Laufe der Zeit gestaucht (vgl. dazu Biogenetisches Grundgesetz - Geschichte und Biogenetisches Grundgesetz - Aktuell). Es hat sich jedoch mehr und mehr gezeigt, dass embryologische Merkmale in allen Stadien extrem flexibel sind (Willmer 2003, 35; vgl. Abb. 335). Komplette Organe wie beispielsweise das Nervenrohr und grundlegende Teile der Körperorganisation werden bei verschiedenen Wirbeltieren auf unterschiedlichen ontogenetischen Wegen gebildet; das gilt auch für frühe Stadien. Folglich muss in evolutionstheoretischer Perspektive angenommen werden, dass entgegen früherer Annahmen alle Entwicklungsstadien evolutiv veränderbar sind, gerade auch frühe embryonale Stadien. Und im Gegensatz zum Biogenetischen Grundgesetz scheint zu gelten: Änderungen der Ontogenese lenken die Stammesgeschichte – ein Anlass für Evo-Devo. Umweltselektion ist ungenügend: Vorsortierte Variabilität Viele Autoren halten das Wirken der Umweltselektion im Verein mit dem Auftreten ungerichteter Mutationen für unzureichend, um die Entstehung evolutiver Neuheiten (s. u.) zu erklären (Arthur 2004, 25; Ruse 2006, 36; Wagner & Laubichler 2004, 97: Laubichler 2005). Populationsgenetische Betrachtungen könnten nur einen Teil des evolutiven Wandels erfassen. Selektion sei zudem nicht kreativ, sondern destruktiv (vgl. Arthur 2004, 35f.). Für eine wirkungsvolle Selektion sei eine Art Vorsortierung der auszulesenden Varianten erforderlich. Die Produktion der Varianten müsse selbst eine gewisse Richtung vorgeben; dazu erhofft man sich wichtige Hinweise aus der Schnittstelle zwischen Genotyp und Phänotyp. Kennzeichnend für Evo-Devo-Ansätze ist also die Suche nach Quellen der Variabilität, die nicht von Zufallsmutationen gespeist werden, sondern eine interne Richtungsvorgabe während der Ontogenese bereithalten (Arthur 2004, x, 55). Als Partner der Selektion müssten von der Ontogenese vorgegebene Ausrichtungen und durch sie eingeschränkte Entwicklungsrichtungen („developmental bias“) in Betracht gezogen werden, die als hauptsächliche Richtunggeber des evolutiven Wandels fungierten (Arthur 2004, 201). Das Neue in der Evolution brauche auch eine Neuprogrammierung. Evo-Devo-Forscher betrachten die Selektionstheorie nur als die halbe Antwort auf die Frage nach den Mechanismen der Evolution. Die synthetische Theorie sei nur eine Teilsynthese gewesen (Arthur 2004, 73), es sei nun eine „inklusive Synthese“ nötig (Arthur 2004, 191), welche die „kreative Seite der Evolution“ einschließe (Arthur 2004, 199). Während der Neodarwinismus Anpassung erkläre, geht es bei Evo-Devo um die Erklärung neuer Formen: „The explanandum is not adaptation, but form“ (Amundson 1994, 563). Regulationsgene und frühe Komplexität In den 1980er Jahren wurden die Homeobox-Gene (vgl. Homeobox-Gene und Evolution) und andere Masterkontrollgene entdeckt. Sie haben zentrale Regulationsaufgaben in der ontogenetischen Formbildung. Bald stellte sich heraus, dass auch entfernt verwandte Tiergruppen oft dieselben Regulationsgene besitzen. Beispielsweise wird die Bildung der Beine von Wirbeltieren und von Gliederfüßern vom selben Regulationsgen dll reguliert (Abb. 336). Der Entwicklung auch morphologisch sehr verschiedener Organismen liegen also häufig die gleichen oder sehr ähnliche Mechanismen zugrunde. Das gilt nicht nur für einzelne Gene, sondern sogar auf ganze Signalübertragungswege (z. B. Abb. 338): Homologe Proteine sind in verschiedenen Organismen in einer homologen Weise arrangiert, üben aber z. T. verschiedene Funktionen in nicht-homologen Organen aus (Gilbert 2003, 763). Carroll (2005) bezeichnet diese konservierten Gene als „tool kit-Gene“. Die Existenz der Regulationsgene und ihre Verbreitung legten ein einschneidendes Umdenken über Evolutionsmechanismen nahe, denn gegenüber bisherigen Vorstellungen ergab sich ein Paradox: „Woher kommt die Vielfalt, wenn die Gene hochkonserviert sind?“ (Arthur 2002, 758). Arthur (2002, 757) bezeichnet die vor diesem Hintergrund Entdeckung der Homeobox Anfang der 1980er Jahre als Startschuss für Evo-Devo. Da eine konvergente (unabhängige) Evolution von gleichen Regulationsgenen als äußerst unwahrscheinlich gelten muss (s. z. B. Gilbert 2003, 753), nimmt man an, dass die gemeinsamen Vorfahren bereits die entsprechenden Gene besaßen, die aber z. T. ursprünglich im Organismus andere Funktionen hatten als heute (Arthur 2002, 761). Da viele grundlegend wichtige Regulationsgene in verschiedensten Tierstämmen nachgewiesen wurden, läuft dieser Befund auf einen unerwartet komplexen Vorläufer der Tierstämme hinaus (Wray 2001, 2256; Carroll 2005, 144). Dies hat gravierende Folgen für das Verständnis von Evolution. Die Unterschiede zwischen den Tierstämmen liegen weniger in der Anwesenheit oder Abwesenheit von (Regulations-)Genen begründet, sondern mehr in deren Nutzung (Amundson 2005, 7; Carroll 2005, 78). Gene können daher nicht der alleinige Schlüssel zum Verständnis der Evolution sein. Gegenüber zu früher resultieren daraus ganz neue Fragen über Evolutionsmechanismen; die Antworten erhofft man sich aus der Ontogenese. Überraschend wenige Gene Die systematische Ermittlung (Sequenzierung) der kompletten Erbfaktoren von Lebewesen (Genome) hat ein weiteres überraschendes Ergebnis gebracht: Die Anzahl der Gene ist erheblich geringer als früher vermutet (Laubichler 2005, 327). Ebenso ist der Unterschied der Anzahl der Gene bei verschieden komplexen Tieren überraschend gering. Das gilt auch für die Anzahl von Kaskaden und Netzwerken bei der Signalweiterleitung zwischen Zellen (Schlosser 2004, 530). Aus diesem Befund muss evolutionstheoretisch gefolgert werden, dass Gene nicht schrittweise neu erworben, sondern schon vorhandene Gene verschieden genutzt wurden (Duboule & Wilkins 1998, 55). Der Schlüssel zum Verständnis der zugrundeliegenden Mechanismen sollte in der Ontogenese liegen. Kambrische Explosion und Punktualismus fordern schnelle Evolution Das plötzliche Auftreten der Tierstämme im Fossilbericht (z. B. bei der sogenannten kambrischen Explosion (Kambrische Explosion) lässt manche Forscher vermuten, dass evolutive Veränderungen sehr schnell, ja gerade sprunghaft ablaufen können. Hier könnte in der Ontogenese ein Erklärungsschlüssel liegen, denn kleine Änderungen in der Regulation und in den Entwicklungskaskaden könnten größere Folgen für den Phänotyp haben. Da die wichtigsten Gene schon in den Vorläufern der Tierstämme vorhanden gewesen sein sollen, die im Kambrium fossil in Erscheinung traten, hätten auf dieser Basis die unterschiedlichen Tierstämme schnell entstehen können (Carroll 2005, 138ff.). Wenn in der Ontogenese kleine Ursachen große Wirkung zeigen können (s. u.), wären damit möglicherweise die fossilen Diskontinuitäten erklärbar. Makroevolution ist nicht Extrapolation von Mikroevolution, und Makroevolution ist nicht erklärt Ein weiterer Anlass für den Evo-Devo-Ansatz ist die Einschätzung seiner Vertreter, dass Makroevolution nicht vollständig erklärt sei bzw. dass wesentliche Fragen ungeklärt seien. Vielmehr sei Makroevolution von der Synthetischen Evolutionstheorie vernachlässigt worden, weil der Focus einseitig auf der Populationsgenetik lag, die aber für die Entstehung von Neuheiten keine ausreichende Erklärung liefere (Gilbert et al. 1996, 357). Mit dieser Einschätzung hängt die Auffassung zusammen, dass Makroevolution nicht als Extrapolation von Mikroevolution verstanden werden könne. Viele Evo-Devo-Forscher stellen ausdrücklich einen qualitativen Unterschied zwischen Mikroevolution und Makroevolution heraus. Populationsgenetik behandle nur die Modifikation bereits existierender Teile, erkläre aber weder ihren Ursprung noch ihre morphologische Organisation (Müller 2003, 51). Daher wird von einigen Evo-Devo-Forschern deutlich unterschieden zwischen „Variation“, „Modifikation“, „Verlust“ und „Erhaltung des bereits Existierenden“ auf der einen Seite und „Entstehung der [Bau-]Teile", „morphologischer Organisation" und „Innovation“ sowie Ursprung („origination“) auf der anderen Seite. Durch den Neodarwinismus werde nur Ersteres erklärt; Letzteres sei gar kein Gegenstand der Synthetischen Theorie (vgl. Müller & Newman 2003, 3). (Vgl. dazu den Newsbeitrag Mikroevolution, Makroevolution und „ID“.) Die klare Unterscheidung zwischen Mikroevolution und Makroevolution geht bei Evo-Devo-Forschern häufig Hand in Hand damit, dass für beide Vorgänge unterschiedliche Mechanismen postuliert werden. Die Evolutionsmechanismen des Neodarwinismus werden dabei nicht in Frage gestellt, sondern als ergänzungsbedürftig betrachtet. Zusätzliche Mechanismen müssten ontogenetische Vorgänge berücksichtigen (Amundson 2005, 3). Während die Synthetische Evolutionstheorie als zentralen Vorgang die Anpassung durch natürliche Auslese beinhalte, sei der zentrale Mechanismus der Evolution neuer organischer Formen die Änderung der Ontogenesen (Amundson 2005, 254). |
Wie funktioniert Evo-Devo?In Kurzform können zwei verschiedene Mechanismen von Evo-Devo wie folgt zusammengefasst werden (Abb. 339): 1. Evolution geschieht durch Neuprogrammierung bzw. Neuverwendung von Genen, die regulatorische Aufgaben haben. 2. In der Evolution neuer Strukturen sind phänotypische Veränderungen die Vorreiter, bevor es zu Änderungen des Erbguts kam. Dies ist möglich durch die große Formbarkeit (Plastizität) auf den ontogenetischen Entwicklungswegen. Aufbau neuer regulatorischer Verknüpfungen: „developmental reprogramming“ Ein grundlegender Unterschied zwischen dem Evo-Devo-Ansatz und dem Neodarwinismus besteht darin, dass Evolution nicht nur durch Evolution neuer Gene voranschreitet. Viele grundlegende Gene sind bei verschiedensten Tierstämmen gleich, so dass die großen Unterschiede zwischen den Tierstämmen nicht allein auf der genetischen Ebene festgemacht werden können (Larsen 2003, 119). Evolutionäre Neuheiten sollen vielmehr auf Veränderungen der Rolle von Steuergenen und deren Verknüpfungen untereinander während der ontogenetischen Entwicklung zurückzuführen sein: regulatorische Evolution (vgl. Laubichler 2005, 324) oder „developmental reprogramming“ (Arthur 2002). Die postulierten Neuverknüpfungen haben ein Überraschungsmoment, das – typisch für Überraschungen – nicht vorhersehbar ist. Evo-Devo-Forschung will herauszufinden, wie sich bei der Entstehung neuer Merkmale die Rolle von Genen während der Ontogenese geändert hat. Wenn ein Gen beispielsweise eine spezielle Aufgabe beim Lesen bestimmter DNA-Sequenzen erfüllt (solche Gene nennt man Transkriptionsfaktoren), kann eine Mutation diese spezifische Aufgabe ändern. Dabei wird der Wirkungsbereich der nachgeschalteten Zielgene modifiziert (Arthur 2000, 52). Damit aber funktioniert die Reprogrammierung auch auf der Basis von Mutationen. Das Neue bei Evo-Devo besteht darin, dass manche Mutationen stärkere (und wie man hofft: auch konstruktive) Änderungen bewirken als der Großteil der Mutationen, die nur zu geringfügiger Variation eines Merkmals führen. Hier deutet sich schon ein Problem von Evo-Devo an: Mit einzelnen Mutationen von „tool-kit-Genen“ ist es in der Regel nicht getan, wenn eine Neuprogrammierung in der Entwicklung (developmental reprogramming) erfolgen soll. Vielmehr benötigt eine nennenswerte Neuprogrammierung eine Abstimmung mehrerer Programmteile, und zwar gleichzeitig; das stellt aber für ungerichtete Mechanismen eine gewaltige Herausforderung dar. Schon der Begriff „reprogramming“ ist hier unglücklich, denn er impliziert einen Programmierer (s. u.). Der Einfügung neuer regulatorischer Verknüpfungen im Organismus stehen zudem Vernetzungen und Entwicklungszwänge (constraints) entgegen, die bereits etabliert sind (s. u.). Letztere müssen daher aufgebrochen werden; das könne nach Wagner (2001, 308) nur sehr selten vorkommen und sei daher experimentell vielleicht nicht genau prüfbar. Die Zunahme an Komplexität im Laufe der Evolution soll also durch eine Zunahme biologischer Funktionen einzelner Regulationsgene erfolgt sein. Das heißt, die einzelnen Regulationsgene werden immer vielseitiger verwendet und erfüllen während der Entwicklung zunehmend unterschiedliche Funktionen (Duboule & Wilkins 1998, 57). Die dafür erforderliche, nach und nach erfolgte Bereitstellung von Genen für neue Aufgaben (sukzessive Rekrutierung; s. u.) wird in wachsendem Maße schwieriger, je vielfältiger die Gene zuvor schon genutzt sind und künftig vernetzt werden (Duboule & Wilkins 1998, 57; Gilbert 2003, 775). Daraus ergibt sich eine interne Vorselektierung von Mutationen und folglich eine Kanalisierung (Duboule & Wilkins 1998, 57). Das heißt, die Erzeugung von Variabilität wird in gewisse Bahnen gelenkt und ist daher begrenzt (s.u.). Die überraschend geringfügige Zunahme der Anzahl an Genen bei Würmern und Fliegen bis hin zu Mäusen oder zum Menschen (True & Carroll 2002, 54) wird auf solche Prozesse zurückgeführt. Kooptionen und Rekrutierungen Die Entdeckung zahlreicher „tiefer" (evolutiv früh etablierter) Homologien auf genetischer Ebene trotz Fehlens entsprechender Homologien auf organismischer Ebene führt zum o. g. Paradox: Woher kommt die Vielfalt, wenn die Gene hochkonserviert sind (Arthur 2002, 758)? (vgl. Abb. 336 und Abb. 337) Drei Möglichkeiten werden diskutiert: 1. Die Regulationsgene sind gar nicht homolog, sondern konvergent entstanden. Diese Möglichkeit ist derart hochgradig unwahrscheinlich, dass sie selten ernsthaft erwogen wird. 2. Die gemeinsamen Steuerungsgene sind ein gemeinsames evolutives Erbe (also stammesgeschichtlich homolog), wurden aber unabhängig bei der Steuerung der Ontogenese nichthomologer Strukturen „eingesetzt“. Demnach wurden sie konvergent rekrutiert bzw. konvergent kooptiert (Willmer 2003, 40; vgl. Arthur et al. 1999, 74; Arthur 2004, 87). Es ist eine neuartige Herausforderung für die kausale Evolutionsforschung, einen Mechanismus für einen solchen Vorgang aufzuzeigen (s. u.). 3. Schließlich könnten in verschiedenen Tierstämmen untergeordnete Gene den homologen Steuergenen nachgeschaltet und eingefügt worden sein (sog. „tinkering“, s. Abb. 194). Gegenüber früheren Vorstellungen stellt sich auch hier ganz neu die Frage nach den Mechanismen. Die zweite und die dritte Möglichkeit kann man kombinieren. Entsprechend wird folgendes Szenario diskutiert: Im hypothetischen Urbilaterier (gemeinsamer Vorfahr aller zweiseitig symmetrischen Tiere) müssen die Steuergene schon vorhanden gewesen sein, allerdings noch in anderer Funktion als später. Für neue (aber teilweise ähnliche) Funktionen wurden sie im Laufe der Evolution rekrutiert. Der weitere Ausbau erfolgte dann durch evolutives „Tinkering“, also das „Einflicken“ weiterer Elemente in eine bereits existierende Entwicklungskaskade, wobei in der nachfolgenden Evolution z. B. der verschiedenen Augentypen sehr verschiedene Gene eingefügt wurden (Abb. 194). Höchst erstaunlich ist, dass Kooptionen nicht nur im Zusammenhang mit funktionell vergleichbaren Strukturen (z. B. verschiedene Arten von Extremitäten), sondern auch in funktionell völlig verschiedenen Zusammenhängen vorkommen. So finden sich beispielsweise Proteine wie Dll, En und Sal, die bei der Entwicklung der Insekten eine konservierte Rolle bei der Entwicklung der Gliedmaßen spielen, in verschiedener Weise bei der Regulation von Augenflecken bei Schmetterlingen (True & Carroll 2002, 67) (Abb. 340). Ganz auf die Entstehung auch neuer Elemente kann in den evolutionstheoretischen Erklärungen allerdings nicht verzichtet werden. Evolutionäre Neuheiten werden daher insgesamt auf eine mehr oder weniger komplexe Verflechtung konservierter Merkmale und neuer Elemente zurückgeführt (Minelli & Fusco 2005, 520). Am Beginn der divergenten Entwicklung werden Gen-Duplikationen vermutet. Verdoppelte Gene könnten für neue Aufgaben frei werden. Dieses Konzept ist zwar nicht neu, wird im Rahmen von Evo-Devo aber auf Steuergene angewendet, die nach Duplikationen für neue Regulationsaufgaben verwendet werden könnten (vgl. dazu kritisch http://www.wort-und-wissen.de/artikel/a03/a03.pdf). Aus dem Gesagten resultiert eine Offenheit für saltatorische (sprunghafte) Evolution. Wenige Änderungen in Regulationsgenen könnten größere Änderungen hervorrufen; und angesichts der „kambrischen Explosion“ und anderer markanter fossiler Diskontinuitäten wird der Ruf nach sprunghaften Veränderungen laut (s.o.). Die hopeful monsters von Goldschmidt erhalten eine neue Chance (Theissen 2006). Ontogenetische Quellen der Variabilität Während im Neodarwinismus ungerichtete Veränderungen (Mutationen) und Auslese durch die Umwelt (Umweltselektion) im Mittelpunkt stehen, wird bei Evo-Devo das Augenmerk auf die Erzeugung von Variabilität durch unterschiedliche ontogenetische Prozesse gelegt (Arthur 2004, 200). Damit werden epigenetische Prozesse (der Weg von den Genen zum Phänotyp, s. u.) und ihre Veränderungsmöglichkeiten in den Blickpunkt gerückt. Davon erhofft man sich drei Vorteile zum Verständnis evolutiver Prozesse: 1. Änderungen ontogenetischer Prozesse können größere Auswirkungen haben als die kleinsten Mutationsschritte in der Synthetischen Theorie. Der Selektion werden sozusagen „größere Brocken" angeboten. 2. Die ontogenetischen bzw. epigenetischen Prozesse sollen auch schon eine bestimmte Entwicklungsrichtung vorgeben, da ontogenetische Entwicklungszwänge keine beliebigen Veränderungen erlauben. Damit soll die Erzeugung einer zu großen und ungerichteten Variationsbreite eingeschränkt werden. Die Erzeugung von Variation ist damit nicht (alleine) von Zufallsmutationen abhängig (Arthur 2002, 760). Die Organismen „steuern“ ihre Evolution teilweise selber und sind kein Spielball der Umweltselektion (vgl. Abb. 341). 3. Modifikative Änderungen, die durch Umweltfaktoren ausgelöst werden, betreffen nicht nur ein einziges Individuum (wie das bei Mutationen der Fall ist), sondern eine ganze lokale Population (West-Eberhard 2004, 113). Damit kann sich eine Änderung schneller durchsetzen, wenn sie nachfolgend genetisch fixiert wird (genetische Assimilation, s. u.). Manche morphologischen Änderungen können durch Änderungen in der Ontogenese leichter auftreten als andere; daraus resultiert eine Kanalisierung (Beldade et al. 2002, 844). Dies wird durch sog. „constraints“ (Entwicklungszwänge) bzw. „developmental bias“ (durch die Entwicklung vorgegebene Ausrichtung) ermöglicht, die auf die verschachtelten Interaktionen der lebenden Konstruktionen zurückzuführen sind. Evo-Devo-Forscher sehen in den constraints nicht nur eine Einengung bzw. Kanalisierung evolutiver Möglichkeiten, sondern eine notwendige Voraussetzung für eine effektiv wirkende natürliche Selektion. Die Variation wird in solche Richtungen gelenkt, die eher zu besseren Phänotypen führen (Wagner & Laubichler 2004, 100). Arthur (2004, 201) bezeichnet die constraints als den „hauptsächlich bestimmenden Faktor der Richtung des evolutiven Wandels“. Aus diesen Überlegungen folgt, dass epigenetische Prozesse Vorrang vor der Genetik haben; sie werden als primäre Ursachen für den evolutiven Wandel betrachtet. Genetische Änderungen können dann nachziehen (s. u.) – contra Dawkins’ egoistischen Genen (Newman & Müller 2000, 315, West-Eberhard 2005). Nicht-erbliche Modifikationen epigenetischer Prozesse werden von Evo-Devo-Forschern als wichtiger Schlüssel zum Verständnis von Makroevolution betrachtet. Für solche Modifikationen wird im folgenden der Begriff Plastizität verwendet. Gemeint sind damit Änderungen in Organismen infolge von Umweltreizen (Schlichting & Smith 2002, 190; Beispiele: Abb. 342 und Abb. 343). Wenn die unterschiedlichen Ausprägungen diskret sind, spricht man von Polyphenismus („Vielgestaltigkeit“), bei kontinuierlichen Unterschieden von Reaktionsnorm. Es ist keine neue Erkenntnis, dass die Fähigkeit vererbt wird, innerhalb gewisser Grenzen je nach Umwelteinflüssen und organismusinternen Einflüssen zu variieren (Nanjundiah 2003, 247). Neu bei Evo-Devo ist, hier eine Quelle für den evolutiven Wandel zu sehen. Die Tatsache, dass die Lebewesen durch Modifikationen veränderbar sind, ermöglicht an sich jedoch noch keine Evolution. Dazu müsste zunächst die Bandbreite der bisherigen Modifikationsmöglichkeiten verändert werden, sonst würde nur eine gewisse Flexibilitätsspanne vererbt werden. Um nun zu einem evolutiven Wandel zu gelangen, stellt man sich folgendes Szenario vor. Eine stressende Umwelt (d. h. eine, die deutlich von der bisherigen Umwelt abweicht) bewirkt eine sonst nicht vorkommende Modifikation (die also das normale Flexibilitätsspektrum überschreitet). West-Eberhard (2005, 610) spricht von phänotypischer Akkomodation: „Phänotypische Akkomodation ist adaptive Einpassung variabler Aspekte des Phänotyps ohne genetische Änderung, die von einem neuen Input während der Entwicklung herrührt.“ Damit dies zu einer dauerhaften Veränderung führt, muss eine nachträgliche genetische Fixierung und Selektion erfolgen (Nanjundiah 2003, 251): Genetische Assimilation durch Ausschalten alternativer Entwicklungswege. Man spricht auch von Phänokopien: Modifikative Veränderungen des Phänotyps werden bei Vorliegen eines Selektionsvorteils durch nachfolgende genetische Änderungen „kopiert“ bzw. fixiert. Selektion entkoppelt also die Abhängigkeit der Merkmalsausprägung vom Umweltreiz (Nanjundiah 2003, 254). Dieser Vorgang ist schon länger Baldwin-Effekt beschrieben worden (z. B. Nanjundiah 2003, 259): Eine phänotypische Antwort auf eine spezifische Umwelt kann von dieser Umwelt unabhängig werden. Was zunächst als rein physiologische Anpassung ohne erbliche Änderung an neue Bedingungen begann, könnte bei Auftreten der passenden Mutationen genetisch fixiert werden. Die Chance, auf diesem Wege evolutiv weiterzukommen, wird darin gesehen, dass die Plastizität und phänotypische Akkomodation nicht in zufälligen Richtungen verläuft, sondern gemäß der Maßgabe der schon vorhandenen Organisation. Gegenüber (ungerichteten) genetischen Veränderungen bringt die Plastizität einen „Anpassungsvorsprung“ (West-Eberhard 2005, 612). Später muss dann eine genetische Assimilation erfolgen. Kommt durch diese Prozesse irgendetwas Neues ins Spiel? Was bringt dieser Vorgang außer einer Fixierung eines bestimmten Bereichs der zuvor schon vorhandenen Bandbreite? Die Hoffnung ist, dass extreme Umwelten eine Flexibilität bewirken, die über das normale Spektrum hinausgeht. Versteckte Reaktionsnormen könnten Rohmaterial für nachfolgende Evolution bereithalten (Schlichting & Smith 2002, 192). Dennoch: Auch extreme Umwelten können nur das „herausholen“, was schon an Potential in den Organismen steckt. Hier greift jedoch die Hypothese, dass die Umweltsensitivität durch genetische Veränderungen erhöht werden könnte. Das heißt: Es sollen neue Antwortmöglichkeiten auf Umweltänderungen (insbesondere Umweltstress) evolvieren. Eine solche Erhöhung der Umweltsensitivität wird als genetische Akkomodation bezeichnet. Während Assimilation (s. o.) eine genetische Fixierung einer bestimmten modifikativen Ausprägung bedeutet (mithin eine Verringerung der Plastizität, ist mit Akkomodation die Steigerung der „Antwortfähigkeit" des Phänotyps auf Umweltänderungen gemeint. Experimentelle Belege für einen solchen Vorgang sind jedoch sehr schwach (Suzuki & Nijhout 2006; vgl. Junker 2007). Damit sich diese Vorgänge also nicht totlaufen, sind Mechanismen zur verbesserten Produktion von Variabilität erforderlich: „Evolvierbarkeit“ („evolvability“). Nach Newman & Müller (2000, 306) entsteht Evolvierbarkeit durch fortgesetzte Wirksamkeit epigenetischer Prozesse in einer Abstammungslinie. Benötigt wird eine Selektion auf Reaktionsnormen, d. h. die Fähigkeit des Organismus, auf verschiedene Umweltreize unterschiedlich reagieren zu können, muss selektiv gefördert werden. Arthur (2004, 147) führt den Begriff „developmental reaction norm“ („DRN“) ein. Die Sensitivität des Genotyps auf die Umwelt müsse hoch gehalten werden. Zusammenfassend wird also spekuliert, dass neue Umweltbedingungen neue „Antworten“ der ontogenetischen Entwicklung auslösen, wobei die natürliche Auslese mindestens zeitweise abgeschwächt ist (s.u.). Dabei wird darauf Bezug genommen, dass den Lebewesen gleichgewichtserhaltende (homöostatische) und regulatorische Prozesse zu eigen sind, dass die Lebewesen also eine gewisse Flexibilität in Abhängigkeit von Umweltreizen besitzen. Diese Quelle von Variabilität könne „angezapft" und für einen evolutiven Wandel nutzbar gemacht werden. Genetische Änderungen, die solche zunächst modifikativen Veränderungen stabilisieren, können dann nachfolgen (genetische Assimilation). Damit neue Modifikationen auftreten können, müssen bisherige constraints gelockert werden (s. o.). Dies aber birgt die Gefahr einer geringeren Anpassung und kann sich daher als selektionsnegativ herausstellen. Selektion könnte also verheißungsvolle Neuanfänge verhindern. Vor diesem Hintergrund mutmaßen einige Evo-Devo-Forscher, dass bei den „Explosionen" der Entstehung neuer Baupläne geringe Selektion herrschte, weil es viele freie ökologische Nischen und folglich eine stark reduzierte Konkurrenz gab (Bateman & DiMichele 2002, 109). Diese stark verringerte Selektion war demnach sogar notwendig, damit Variation nicht vorschnell ausgelesen wurde und dadurch verloren ging. In Phasen einer stärkeren ökologischen Veränderung sollen genetische Kooptionen und Reprogrammierungen (s. o.) besonders begünstigt gewesen sein (True & Carroll 2002, 74). Modularität Ein bedeutender Aspekt von Evo-Devo ist die Modularität im Aufbau der Lebewesen, die sich in einem überraschenden Ausmaß auch auf genetischer Ebene und bei Entwicklungsprozessen herausgestellt hat. Van Dassow & Munro (1999) betrachten Modularität als einen wichtigen Bestandteil des „konzeptionellen Rahmens von Evo-Devo“ (vgl. Gass & Bolker 2003, 260). Gilbert (2003, 766) bezeichnet Modularität als „Vorbedingung für Evolution durch Entwicklung“. Die Modularität ist wichtig, weil Module quasi-autonome Teile eines Entwicklungssystems sind, die verändert werden können, ohne zugleich andere Teile des Organismus ernsthaft zu stören (Gass & Bolker 2003, 261). Außerdem ermöglichen sie eine relativ freie Kombinierbarkeit (Schlosser 2004, 541f.). Einer der wichtigsten Vorgänge, der auf „Modularität als Verbesserung der Evolvierbarkeit“ aufbaut, ist Duplikation plus Divergenz, also die Verdopplung von Genen und ihrem nachfolgenden Verschiedenwerden. Außerdem wird spekuliert, dass ein unterschiedliches „Zusammenstecken“ von Modulen neue ontogenetische Entwicklungswege und damit auch neue Strukturen ermöglicht (Gass & Bolker 2003, 261). Die Modularität der ontogenetischen Entwicklung soll also helfen, dass stärkere Änderungen nicht zuviele negative Begleiterscheinungen (Kollateralschäden) verursachen, da die Module relativ unabhängig sind. |
KritikEinige Kritikpunkte wurden in den Ausführungen des vorigen Abschnitts schon eingeflochten. Hier soll die Kritik zusammengefasst und genauer erläutert werden. Die Mechanismenfrage bleibt ohne überzeugende Antwort. Evo-Devo-Forscher sprechen von Neuprogrammierung („developmental repatterning"), Rekrutierung, Kooption oder Flickschusterei („tinkering"). Dabei gewinnt man häufig den Eindruck, als ob es kein Problem wäre, wie das überhaupt funktioniert. Mit einzelnen Mutationen ist es jedenfalls nicht getan, und aufgrund der Verflechtungen vieler Gene und epigenetischer Abläufe ist zu erwarten, dass Mutationen fast immer schädlich sind (vgl. Chipman 2001, 300). Die Vorschläge von Mechanismen sind denn auch ziemlich vage, sobald es sich um umfangreichere Veränderungen handelt. Viele Beispiele betreffen zudem nur den mikroevolutiven Bereich (vgl. Fehrer 2003, Suzuki & Nijhout 2006, Winkler 2007) und erlauben keine Extrapolation auf Makroevolution. Konkret stellt sich die Frage, wie der Übergang eines Regulationsgens wie dll in einen neuen Zusammenhang gelingt (z. B. von der Regulation der Extremitätenentwicklung zu Regulationsaufgaben in der Musterbildung von Schmetterlingsflügeln, s. o.). Wie erfolgt der nachgeschaltete Einbau in die untergeordneten Kaskaden (vgl. dazu Neuhaus 2002). Wenn ein Regulationsgen in einen neuen Kontext eingebaut werden und dort funktionieren soll, genügen einzelne Mutationen nicht, sondern mehrere Änderungen müssen in einer Art „konzertierten Aktion" aufeinander abgestimmt erfolgen. Von manchen Evo-Devo-Forschern wird der fehlende Nachweis ausreichender Mechanismen durchaus eingeräumt (Newman 2006, 14), und nicht umsonst gibt es eine umfangreiche „EvoDevo-Agenda" mit zahlreichen noch zu erforschenden Problemen (Müller & Newman 2005). Doch Wagner (2001, 305) gibt zu bedenken, dass entwicklungsgenetische Neuprogrammierungen möglicherweise nicht experimentell nachvollzogen werden können. Das aber ist das Eingeständnis einer Grenze dessen, was Naturwissenschaft leisten kann. Die Problematik wird noch dadurch verschärft, dass wiederholte ähnliche (konvergente) Kooptionen evolutionär verwandter Moleküle für ähnliche Zwecke angenommen werden müssen (Newman 2006, 13). Das evolutionstheoretische Konvergenzproblem (vgl. dazu Ähnlichkeiten in der Morphologie und Anatomie verfolgt also auch Evo-Devo. Im Zuge der Evo-Devo-Forschung gibt es wie erwähnt eine neue Offenheit für saltatorische (sprunghafte) Evolution: Diese Sicht ist aber nach wie vor problematisch, und die Gründe, weshalb sie lange Zeit nicht hoffähig war, gelten nach wie vor. Komplexe Konstruktionen sind funktionell integrierte Einheiten. Selbst wenn etwa eine homeotische Mutation zu einem neuen oder deutlich veränderten Körperteil führt, so muss dieser in den Organismus integriert werden; das erfordert zahlreiche aufeinander abgestimmte Veränderungen (Budd 1999, 327). Solche saltatorischen Modelle seien daher Erzählungen und hätten weder Erklärungs- noch Vorhersagekraft. Budd (1999) plädiert daher für eine Abkehr von sprunghafter Evolution und schlägt ein Modell vor, wonach Änderungen in Regulationsgenen kleineren mikroevolutiven Änderungen folgen statt ihnen sprunghaft vorauszugehen. Die experimentelle Bewährungsprobe steht diesem Vorschlag aber noch bevor. Entstehung der Modularität. Laut Alon (2003) besteht bei nicht-modularen Netzwerken die Gefahr, dass sie durch evolutive Optimierungsprozesse einen „eingefrorenen“ Status erreichen. Dieser Status mag zwar für die momentane Aufgabe extrem gut sein, vermindert die Evolvierbarkeit aber auf nahezu Null. Dass Modularität Evolution also erleichtern könnte, ist gedanklich nachvollziehbar, inwieweit ist dies aber experimentell nachvollzogen? Coyne (2005) kritisiert Sean B. Carroll, der diesen Aspekt in seinem Buch „Endless Forms Most Beautiful" stark betont: „Aber Modularität und ein gemeinsamer genetischer Baukasten können für sich alleine nicht die ‘endlosen Formen’ begründen, weil konservierte Gene Vielfalt nicht erklären können“ (Coyne 2005, 1029). Es ist heute zwar vielfach nachgewiesen worden, dass vorhandene Gene an neuen Orten und zu neuen Zeiten genutzt werden, aber die experimentellen Belege für Prozesse, die zu dieser unterschiedlichen Nutzung führten, fehlen: „Die Evidenz für diese kritische Hypothese beruht jedoch mehr auf Schlussfolgerungen als auf Beobachtungen oder auf Experimenten“ (Coyne 2005, 1029). Vergleichend-biologische Argumentation. Anstelle von Mechanismen werden häufig vergleichend-biologische Argumente angeführt; sehr ausgeprägt der Fall ist das in Carrolls (2005) Buch „Endless Forms Most Beautiful“. Auch True & Carroll (2002) präsentieren in ihrem Überblicksartikel über genetische Kooptionen keine Mechanismen. Wagner (2001, 305) weist darauf hin, dass viele Entdeckungen nur „Assoziationen" seien. Vergleichende Biologie begründet aber keinerlei Mechanismen und begründet nicht einmal Evolution. Beispielhaft sei dazu Amundson (2005, 247) zitiert: „Die Entdeckung molekulargenetischer Gemeinsamkeiten kann diese Art der Integration [neuer Entwicklungsmodule] nicht erklären, und wenn sie noch so überraschend und weit verbreitet sind. Die Integration muss als Prozess verstanden werden“ (Hervorhebungen nicht im Original). Zu den in der Evo-Devo-Literatur öfter zitierten Augenflecken auf Schmetterlingsflügeln bemerkt Amundson (2005, 247), dass die Benennung der Gene nicht dasselbe sei wie die Erklärung, wie Entwicklung modifiziert wurde, so dass evolutionäre Änderungen resultierten. Das tatsächliche Ziel von Evo-Devo sei es, Evolution als Modifikation von Entwicklungsprozessen zu erklären, nicht nur zu zeigen, dass Evolution durch Modifikation von Entwicklung voranschreitet. Was ist die Triebfeder für Kooptionen von Steuergenen in ganz verschiedenen Zusammenhängen? Die Verwendung derselben Steuergene in z. T. völlig verschiedenen Entwicklungsprozessen gehört sicher zu den ganz großen Überraschungen der biologischen Forschung in den letzten Jahren. Im Rahmen der Evolutionstheorie stellt sich hier nicht nur die Frage nach den Mechanismen einer Übernahme in neue Prozesse, sondern auch nach der Triebfeder für einen solchen Vorgang. „Warum wurden die selben Transkriptionsfaktoren wiederholt unabhängig rekrutiert, um ähnliche Strukturen in diesen radikal verschiedenen Formen zu bilden?“ fragt Newman (2006, 14), ohne diese Frage zu beantworten. Die wiederholte konvergente Übernahme gleicher Gene in funktionelle ähnliche oder auch neue Zusammenhänge macht dieses Problem besonders delikat. Denn genauso wie es für die klassischen Mutationen keine nachweisbare Richtungsvorgabe gibt, kann eine solche Vorgabe für die hypothetischen Kooptionen und Rekrutierungen geben; es sei denn, es gibt eine Art Vorprogrammierung oder Prädisposition, doch das würde neue Fragen nach deren Ursprung aufwerfen. Was also soll dafür die Triebfeder sein, wenn es kein zu erreichendes Ziel gibt? „Konstruktionszwänge“: Verheißung oder Verhinderung von Evolution? Der Evo-Devo-Ansatz steckt in folgendem Dilemma: Einerseits wird darauf hingewiesen, dass die natürliche Selektion Unterstützung durch eine vorsortierte Variabilität benötige. Diese Vorsortierung soll durch eine Einschränkung der Variationsmöglichkeiten aufgrund von Konstruktionszwängen und damit verbundenen kanalisierten Entwicklungsrichtungen („developmental bias“, „constraints“) ermöglicht werden. Andererseits spricht einiges dafür, dass dadurch Evolution verhindert wird, weil die zugleich auch vorhandene Vernetzung ein nennenswertes Abweichen vom Hergebrachten nicht erlaubt. Aus diesem Grunde wurde vorgeschlagen, dass die Entstehung von Neuheiten ein Durchbrechen der alten constraints erfordert. Damit aber braucht Evo-Devo die Bewahrung und die Änderung der constraints gleichzeitig – beide Erfordernisse widersprechen einander. Dazu kommt auch hier, dass ein experimenteller Nachweis dafür fehlt, dass das Aufbrechen von constraints mehr ist als eine notwendige Voraussetzung für die Entstehung von Neuem. Mit dem Aufbrechen ist noch nicht viel gewonnen. Die unbeantwortete Frage ist, wie Steuergene und Entwicklungs-Netzwerke neu und sinnvoll zusammengefügt werden, außer vielleicht in Fällen, die nur sehr geringfügige Änderungen erfordern (vgl. Winkler 2007). Das ist nach allem, was wir wissen, nur koordiniert möglich. Ein ähnliches Problem ergibt sich aus der postulierten vorübergehenden Verringerung der Selektion. Damit sollen einerseits „verheißungsvolle Neuanfänge“ nicht im Keim erstickt werden, andererseits könnte gelockerte Selektion leicht dazu führen, dass zu viele nachteilige Mutationen nicht im nötigen Maß ausgelesen werden und es zu Funktionszusammenbrüchen kommt. Ob das Aufbrechen von constraints und vorübergehend gelockerte Selektion tatsächlich zur Entstehung und Etablierung neuer Variabilität führen, ist also offen und kein experimentell begründetes Ergebnis. Wie wurde das Variationspotential aufgebaut, das der Selektion helfen soll? Die epigenetische Flexibilität der Organismen ist ein schon vorhandenes Rohmaterial für evolutionäre Prozesse. Woher dieses kommt bzw. wie es aufgebaut wurde, ist erst einmal unbekannt und bedarf der experimentellen Untersuchung. Im Rahmen der Grundtypenbiologie wird von polyvalenten Stammformen ausgegangen (Junker & Scherer 2006). Polyvalenz ist etwas Gegebenes, das die Biologen heute an den Lebewesen vorfinden. Ob die Polyvalenz schrittweise aufgebaut wurde oder etwas anfänglich Gegebenes war, kann durch den Nachweis einer heute feststellbaren genetischen und epigenetischen Flexibilität nicht entschieden werden. Die epigenetische Flexibilität kann wohl als Basis für eine genetische Assimilation verwendet werden. Letztlich kann aber nur das assimiliert werden, was schon angelegt ist. Neuprogrammierung ist nicht alles. Die Neuprogrammierung von Regulationsgenen und anderen tool-kit-Genen gilt als wichtiger (hypothetischer) Evo-Devo-Mechanismus. Bei der Lektüre mancher Evo-Devo-Publikationen erhält man den Eindruck, als sei damit die Frage der Entstehung von Neuem in der Evolution gelöst oder wenigstens prinzipiell lösbar (so z. B. bei Carroll 2005). Dennoch könnte auch dies nur ein Teil notwendiger evolutionärer Prozesse sein. Denn Modularität und darauf aufbauende (hypothetische) Neuprogrammierungsmöglichkeiten sind nur Teilaspekte der Organisation der Lebewesen. Angesichts einer großen Zahl ganz unterschiedlicher Gene und Genfamilien bleibt nach wie vor die Frage nach deren Neuentstehung. Die Unterschiede zwischen den Organismen können nicht allein auf unterschiedliche Aktionen der Steuergene zurückgeführt werden, da selbst 1% Unterschied in den DNA-Sequenzen einen substantiellen Unterschied in den Proteinsequenzen bedeutet (Coyne 2005). Es gibt nicht die totale Modularität. Die Entdeckung einer ausgeprägten Modularität auf genetischer Ebene (z. B. bei den Steuergenen) ist eine der großen Überraschungen der Forschungen der letzten Jahre. Eine totale Modularität gibt es jedoch nicht. Module müssen miteinander gekoppelt werden und sind nicht völlig unabhängig vom Rest des Organismus. Und die Module müssen aufeinander abgestimmt sein. Ein neues Aufeinander-Abstimmen von Modulen in neuen Zusammenhängen dürfte kaum mit wenigen Mutationen erreichbar sein. „Eine modulare Struktur erzeugt Konstruktionszwänge, weil einige Interaktionen zwischen den Modulen möglicherweise nur schwer gelöst werden können“ (Raff 2000, 78). Die Mechanismen der Trennung von Modulen seien kaum verstanden. Ein Vergleich mit der Technik offenbart zudem ein ganz wesentliches Problem: Wenn in technischen Geräten neue Module (wie z. B. eine Festplatte in einen Computer) eingebaut werden, so geht das nur dann mit wenig Aufwand, wenn alle notwendigen Verschaltungen bereits konstruiert sind. Genau damit kann man bei evolutionärem Neueinfügen nicht rechnen. Verwendung von Schöpfungsvokabular. Die hypothetischen Evolutionsvorgänge werden fast unbesehen als real hingestellt und mit Schöpfungsvokabular beschrieben. Eines der krassesten Beispiele dieser Art ist der öfter zitierte Satz: „Evolution of form is very much a matter of teaching very old genes new tricks!“ (Carroll 2005). Es ist schon sehr erstaunlich, dass ein solches Vokabular verwendet wird, obwohl in Wirklichkeit ein ungeplanter, ziel- und geistloser Vorgang beschrieben werden soll. Auch auch Begriffe wie Kooption, Rekrutierung, Neuprogrammierung oder Neuverdrahtung implizieren eine intelligente Planung. Das gilt sogar für den Begriff „Flickschusterei“ („tinkering“), mit dem man den Eindruck von Planung vermeiden möchte. |