Nun wird argumentiert, dass die schädlichen Mutationen letztlich keine Rolle im Evolutionsprozess spielen, da sie durch Selektion (=Auslese) wieder ausgemerzt werden. Entscheidend sei jedoch, dass Mutationen sich gelegentlich vorteilhaft auswirken können. Diese würden sich im Laufe der Zeit in den Populationen durchsetzen, und immer wieder könnten weitere positive Mutationen diesen Prozess fortsetzen.
Diese Argumentation ist grundsätzlich richtig. Doch das Auftreten vorteilhafter Mu-
tationen ist nicht gleichbedeutend mit der Entstehung neuer genetischer Informa-
tion, sondern beruht in der Regel letztlich auch auf Defekten, die sich nur unter besonderen Umweltbedingungen als günstig herausstellen.
Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Auf manchen Inseln, die starken Winden aus-
gesetzt sind, leben Insekten, deren Flügel rückgebildet sind oder die ihre Flügel ganz verloren haben (Abb. 58). Für die dortigen Insekten ist diese Veränderung vorteilhaft, denn bei einem Orkan können sie, wenn sie zum Flug ansetzen, weit aufs offene Meer getrieben werden. Wenn der Wind nicht dreht, werden sie aus eigener Kraft dann in der Regel nicht mehr zurückfliegen können und kommen um. Besser also, das Insekt kommt erst gar nicht in Versuchung, „abzuschweben“. Dazu kommt, dass auf Inseln gewöhnlich viel weniger Feinde leben als auf dem Festland, so dass der Verlust an Beweglichkeit verkraftbar ist; schließlich haben diese Insekten ja überlebt. Also ist alles in allem der Flügelverlust vorteilhaft. Doch zum Verständnis der Evolution ist damit nichts gewonnen. Denn dieser Vorteil beruht auf einem Verlust, ist also ein Abbau eines Körperteils, keine Höherentwick-
lung. Zudem ist der Flugverlust nur an den speziellen Standorten für das Überle-
ben günstig; normalerweise ist er nachteilig; entsprechende Mutanten werden andernorts durch Selektion ausgemerzt.
Aus der Biochemie sind folgende Verhältnisse bekannt: Wenn durch eine Mutation ein Enzym einen neuen Stoff abbauen oder umbauen kann (neue Substrataffini-
tät), geht das gewöhnlich auf Kosten der (vorherigen) Spezifität der Substrataffini-
tät, d. h. die genaue Zuordnung zwischen Enzym und Substrat ging verloren. Neu erworbene Gift- oder Antibioticaresistenzen können auf Stoffwechseldefekte zu-
rückgehen, die verhindern, dass das Gift in lebenswichtige Stoffwechselprozesse eingeschleust wird.
Wir können festhalten: Mutationen, die sich nur unter bestimmten Bedingun-
gen als „positiv“ erweisen, erklären Evolution neuer Strukturen nicht, da sie Verluste beinhalten. Es geht also nicht um die Frage, ob es vorteilhafte Mutationen gibt, sondern ob dadurch echt neues Erbmaterial und neue Strukturen entstehen. |
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An verschiedensten Organismen wurde seit Jahrzehnten wiederholt beobachtet, dass nach einiger Zeit immer wieder die gleichen Mutanten auftreten. Es entste-
hen häufig solche Mutanten, die zuvor bereits existierten. Pflanzenzüchter stel-
lten fest, dass im allgemeinen infolge künstlicher Mutationsauslösung hauptsäch-
lich Merkmale und Eigenschaften auftreten, die auch nach spontan auftretenden Mutationen wildwachsender Pflanzen entstehen. Die Zahl der neuen Mutantenty-
pen nimmt bei immer weiteren Mutationsversuchen ab. Der Genetiker W.-E. Lönnig hat dieses Phänomen unter der „Regel der rekurrenten Variation“ zusammenge-
fasst. Das bedeutet „wiederkehrende Veränderlichkeit“. Auch beim Menschen ist dieses Phänomen bekannt; bislang sind über 5000 wiederholt auftretende erb-
liche Abweichungen bekannt geworden. Bei Getreide kennt man als Beispiele für rekurrente Variationen dichte Ähren, frühe Reife, Fehlen von Wachs, kurze Gran-
nen, Fehlen des Farbstoffs Anthocyan oder Mehltauresistenz.
Als Grund für die Regel der rekurrenten Variation vermutet Lönnig, dass es nur eine begrenzte Zahl von Erbfaktoren gibt, bei denen unter schrittweisem bis völ-
ligem Funktionsverlust noch ein lebensfähiger, aber in vielen Fällen mehr oder we-
niger geschädigter Organismus gebildet werden kann.
Die Regelhaftigkeit der Mutationserscheinungen weist auf vorgegebene, zwar reich-
haltige, aber letztlich begrenzte Veränderungsmöglichkeiten der Lebewesen hin. Die Vielfalt der Mutationen bewegt sich nach bisherigen Untersuchungen innerhalb von Grundtypen. |