Makroevolution umfasst die Entstehung neuartiger Strukturen. Das bloße An- oder Abschalten vorhandener Strukturen in verschiedenen Zusammenhängen hilft bei dieser Frage nicht entscheidend weiter. Homeoboxgene sind nur ein kleiner Teil des Bauplans einer komplexen Struktur. Ihre Aktivierung ruft einen bestimmten morphologischen Bauplan, ein genetisches Modul, ab (Cummins 2003). Die Entstehung der Module (seien es Antennen, Flügel, Mundwerkzeuge, Halteren, Beine, Geschlechtsorgane, etc.) bleibt bei den Betrachtungen über die Homeoboxgene unberührt (Alon 2003).
Die diverse Ausbildung der Hinterbeine in den verschiedenen Insektengruppen ist ein wesentliches Kennzeichen dieser Tiere. So haben viele Käfer drei Paar gleichartig gestaltete Beine, Grashüpfer aber enorm vergrößerte Hinterbeine. In einer neuen Studie von Mahfooz et al. (2004) konnte gezeigt werden, dass die beiden Hox-Gene ultrabithorax und abdominal-A (zusammengefasst UbdA) für die spezielle Ausdifferenzierung der Hinterbeine zuständig sind. In Insekten mit gleichartigen Beinpaaren wurde kein UbdA in Beinen beobachtet, in Insekten mit leicht vergrößerten Hinterbeinen (Gottesanbeterinnen, Schaben) wurde zwar die Expression von ubdA beobachtet, aber erst in späten Stadien. In Tieren mit stark unterschiedlichen Hinterbeinen (Grashüpfer, Grillen) konnte ubdA schon in frühen Stadien festgestellt werden. Es gibt also eine Koinzidenz zwischen der Diversifizierung der Hinterbeine und der örtlichen und zeitlichen Expression von ubdA: Je mehr und je früher ubdA in den Hinterbeinen vorkommt, um so größer ist deren Ausdifferenzierung. Diese Befunde zeigen also, dass Hox-Gene nicht nur Ein/Aus-Schalter für genetische Module sind, sondern auch „Zwischenstellungen" einnehmen können. Auch in dieser neuen Studie wird eine Verbindung zwischen der Insektenevolution und der Regulierung durch Homeobox-Gene gezogen (Mahfooz 2004).
Auch angesichts dieser faszinierenden Experimente bleibt die Frage offen, woher z.B. das gesamte genetische Modul „Grashüpfer-Hinterbein" gekommen ist. Es handelt sich ja nicht um eine bloße Streckung oder Verdickung des Hinterbeins, sondern um komplexe morphologische Anpassungen an die Sprungfähigkeit des Grashüpfers.
Literatur
Alon U (2003) Biological networks: The tinkerer as an engineer. Science 301, 1866-1867.
Cummins M, Pueyo JI, Greig SA & Couso JP (2003) Comparative analysis of leg and antenna development in wild-type and homeotic Drosophila melanogaster. Dev. Genes Evol. 213, 319-27.
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Mahfooz NS, Li H & Popadic A (2004) Differential expression patterns of the hox gene are associated with differential growth of insect hind legs. Proc Natl Acad Sci U S A. 101, 4877-4882.
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