Im Rahmen der Evolutionslehre wird nicht behauptet, dass gleichsam auf einen Schlag aus einfachsten Vorstufen sofort eine sehr komplexe Struktur entstehen soll oder in der Vergangenheit entstanden sei. Um auf das Gedicht der Affenhorde zurückzukommen: Der Evolutionstheoretiker wäre schon sehr zufrieden, wenn die Affen das Wort „Frühling" zuwege brächten. Sie nehmen dann das Blatt, auf dem „Frühling" steht, legen es in einen Kopierer und stellen einige Tausend Kopien her. In der Natur: Ein Lebewesen mit einer positiven Eigenschaft vermehrt sich, so dass auch alle Nachkommen diese Eigenschaft haben. Das ist Selektion (=natürliche Auslese).
Und nun werden viele tausend Blätter mit dem Wort „Frühling" in ebensoviele Schreibmaschinen eingespannt. Die Affenhorde macht sich wieder an die Arbeit. Und siehe da – irgendwo taucht nach „Frühling" das Wort „lässt" auf. Dieses Blatt wird wieder vervielfältigt usw. Und so kommt nach einigen Schritten der Satz „Frühling lässt sein blaues Band wieder flattern durch die Lüfte" heraus – wir haben den ersten Teil des gesuchten Gedichtes. Und so geht es dann weiter.
Damit ist aber das evolutionskritische Argument nicht entkräftet. Vielmehr lehrt der berechtigte Einwand mit der Selektion, dass abgeklärt werden muss, ob der Übergang zu einer neuen Struktur in selektionspositive Schritte unterteilt werden kann. In unserem Gedichtsbeispiel sieht das so aus: Wir brauchen das Wort „Frühling" oder wenigstens „Früh", um eine sinnvolle (selektionspositive) Stufe zu haben. „Frü" wäre zu wenig und wäre nicht selektierbar. Oder beim nächsten Schritt: „Frühling läss" ist noch nicht sinnvoll; erst wenn „Frühling lässt" erreicht ist, kann die Selektion wieder angreifen.
Es geht also im evolutionskritischen Argument an dieser Stelle darum zu zeigen, dass in der mutmaßlichen Evolutionsgeschichte die einzelnen Schritte von einer sinnvollen Struktur zu einer anderen so groß sind, dass sie durch Zufallsmutation und Selektion (und ggf. andere Evolutionsfaktoren) nicht überbrückbar sind.
Das eigentliche Argument lautet also: Organe oder Bauteile von Lebewesen sind sehr kompliziert und funktionieren nur, wenn alle Einzelteile ausgebildet sind; unfertige Organe können dagegen selektiv nicht ausgelesen werden. Der Über- gang von einer selektierbaren Stufe zur nächsten erfordert so viele unabhängige Einzelschritte, dass er durch Zufallsmutation und Selektion nicht überbrückt wer- den kann. Behe („Darwin’s Black Box", 1996) hat für solche Verhältnisse den Be- griff der „irreduziblen Komplexität" geprägt. Entscheidend ist also, ob und wie irreduzible Komplexität nachgewiesen oder wenigstens plausibel gemacht werden kann.
Außerdem muss abgeschätzt werden, wieviele unabhängige Schritte erforderlich sind, um von einer selektierbaren Stufe zu einer anderen zu gelangen. Die ein- deutige Klärung dieser Fragen steht aus; sie ist außerordentlich schwierig und anspruchsvoll. So einleuchtend das evolutionskritische Argument intuitiv ist, so schwierig scheint es empirisch beweisbar zu sein.
Umgekehrt kann man sagen: Der Kritiker, der das Wahrscheinlichkeitsargument entkräften will, muss zeigen, wie der Weg zu einem neuen Organ so kleinschrittig erfolgen kann, dass die einzelnen Schritte durch das Wirken von Zufallsmutation und Selektion überbrückt werden können. Das ist die entscheiden Frage, die ge- klärt werden muss.
Ein großer Haken. Das obige Beispiel hat allerdings noch einen großen Haken: Der Satz aus dem bekannten Mörike-Gedicht macht nämlich nur dann einen Sinn, wenn ihm ein Sinn gegeben wurde. Die Buchstabenfolge für sich ist für jeden, der die deutsche Sprache nicht kennt, noch sinnlos. Woher der Bedeutungsaspekt kommt, soll hier zugunsten der Evolutionslehre ausgeblendet werden, obwohl diese Frage von zentraler Bedeutung ist. Das Beispiel soll also nur verdeutlichen, dass man sich vergewissern muss, ob ein Übergang von einer sinnvollen Stufe zur nächsten nicht mehr verkürzbar ist. (Die Frage nach der Entstehung von biolo- gischer Information wird im Artikel Entstehung biologischer Information behandelt.) |