Mit den als Atavismen interpretierten Missbildungen wird inkonsequent argumentiert. Missbildungen werden nämlich nur sehr selektiv als Hinweise auf eine angenommene Stammesgeschichte gewertet (also als Atavismen interpretiert), wenn sie Ähnlichkeiten mit vermuteten Vorfahren des betreffenden Organismus aufweisen. Fast alle Missbildungen können aber nicht als evolutionär bedingte Rückschläge interpretiert werden, beispielsweise gegabelte Rippen, Hasenscharte, Sechsfingrigkeit, die Ausbildung von zwei Köpfen oder das Auftreten eines fünften Beines und viele andere. Diese Missbildungen sind mit Sicherheit keine Hinweise auf früher verwirklichte stammesgeschichtliche Stadien. Die Interpretation von Missbildungen als Atavismen ist also nur möglich, wenn ein bestimmter Evolutionsverlauf bereits vorausgesetzt wird. Daraus wird dann gefolgert, welche Missbildungen überhaupt als Rückschläge in frühere Stadien in Frage kommen könnten. Da das zu Beweisende somit vorausgesetzt wird, können Atavismen nicht als Belege für eine Stammesgeschichte gewertet werden. Die Tatsache, dass einige wenige Missbildungen an Ausprägungen bei mutmaßlichen Vorfahren der betrachteten Organismen erinnern, ist nicht besonders bemerkenswert und aufgrund vieler gestaltlicher Ähnlichkeiten nicht überraschend. Dazu kommt, dass Atavismen bei genauerer Betrachtung den mutmaßlichen Vorfahrenstrukturen keineswegs in jeder Hinsicht gleichen. Auch bei den atavistischen Strukturen selbst wird wieder selektiv argumentiert. So gibt es Pferde mit atavistischen zweizehigen Füßen (Abb. 201, s. o.), unter den fossilen Pferden sind allerdings nur drei- und vierzehige Formen bekannt.
Bei konsequenter Anwendung würde die atavistische Interpretation zu unsinnigen Schlussfolgerungen führen, wie das folgende Beispiel zeigt. Vierflügelige Fruchtfliegen-Mutanten (Abb. 57, unten rechts) werden als Hinweis dafür gewertet, dass die normalerweise zweiflügeligen Insekten (Dipteren) von vierflügeligen abstammen. Die Ausbildung von vier Flügeln wird als Atavismus interpretiert. Es gibt aber auch Fruchtfliegenmutanten mit vier Schwingkölbchen und ohne Flügel – eine zwecklose Konstruktion, die sicher nicht als Hinweis auf stammesgeschichtliche Vorfahren gewertet werden kann. |
|