Evolution: Biologie |
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Interessierte: Biogenetisches Grundgesetz - Geschichte |
InhaltIn diesem Artikel wird erklärt, was in der Embryologie erforscht wird und weshalb dieses Forschungsgebiet in der Ursprungsfrage eine besondere Bedeutung genießt. In einem kurzen geschichtlichen Abriss wird besonders auf das Biogenetische Grundgesetz von Ernst Haeckel eingegangen und dessen Stellenwert für die Erforschung der Stammesgeschichte kritisch diskutiert. Die Arbeitszweige der Embryologie Ernst Haeckel – ein einflussreicher, aber auch umstrittener Forscher Kausale Aussagen des Biogenetischen Grundgesetzes nach Haeckel Deskriptive Aussagen des Biogenetischen Grundgesetzes Kritik der kausalen Aussagen des Biogenetischen Grundgesetzes Kritik der deskriptiven Aussagen Der heutige Stellenwert des Biogenetischen Grundgesetzes |
Die Arbeitszweige der Embryologie |
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Den Prozess der Entwicklung von der befruchteten Eizelle bis zum erwachsenen Organismus (bzw. bis zum Tod) bezeichnet man als Ontogenese. Der dafür zuständige Wissenschaftszweig ist die Embryologie. Im Gegensatz zur Phylogenese (=Stammesgeschichte) ist dieser Vorgang immer wieder beobachtbar. Abb. 263 verdeutlicht die Unterschiede zwischen Ontogenese und Phylogenese. |
Aus praktischen Gründen wird zwischen deskriptiver (beschreibender) und kausaler bzw. experimenteller Embryologie unterschieden. Bei der ersten Forschungsrichtung geht es um die Beschreibung der Entwicklungsvorgänge und um Vergleiche von Entwicklungsabläufen unterschiedlicher Arten. Die kausale Embryologie bemüht sich um die Klärung von Ursachengefügen der dabei ablaufenden Prozesse. Die Embryologie spielt auch für die Frage nach der Geschichte der Lebewesen (Evolution) eine bedeutsame Rolle, z. B.: Kann der Weg von der befruchteten Eizelle zum ausgewachsenen Organismus als ein Abbild der vermuteten Stammesgeschichte gelten? Sind vorübergehend auftretende Strukturen (z.B. die sogenannten „Kiemenspalten“ beim Menschen) Relikte von Merkmalen evolutiver Vorfahren (hier: Kiemen der Fische)? (vgl. dazu Biogenetisches Grundgesetz - Beispiele) Stellen genetische Entwicklungs- und Kontrollgene (Homeobox-Gene, vgl. Homeobox-Gene und Evolution) sowie embryonale Bildungsmechanismen und -prinzipien auch einen Angriffspunkt für evolutionäre Mechanismen des Artenwandels dar? |
Manche Fachkollegen werteten zu sehr vereinfachende Darstellungen Haeckels als Fälschung oder Betrug (z.B. Rütimeyer 1868, His 1874, Bischoff 1876, Richardson 1997, Gould 2002), auch wenn Haeckel selbst wiederholt auf den hypothetischen Charakter eines Teils seiner Zeichnungen hinwies. Der Fälschungsvorwurf zielte im Kern nie auf methodische, sondern auf inhaltliche Missgriffe. Denn mit den kritisierten Schemata bildete Haeckel nicht den Konsens des damals bekannten Wissens ab, sondern entstellte Bekanntes und erklärte Unbekanntes als bekannt mit dem Ziel, das Biogenetische Grundgesetz zu beweisen. Sein Einfluss auf Lehrbücher, die Morphologie und die Embryologie bis in die heutige Zeit hinein rührt im wesentlichen wohl daher, dass seine Thesen und seine Person mit dem Siegeszug der Abstammungslehre verbunden wurde und dadurch eine besondere Form von Legitimation erfuhren. |
2. Das Auftreten von Rekapitulation in der Ontogenese wird durch die Mechanismen der Phylogenese erzeugt. In der Ontogenese eines höherentwickelten Organismus sollen vorübergehend morphologische (=gestaltliche) Strukturen auftreten, die adulten (=ausgereiften) Merkmalen stammesgeschichtlicher Vorfahren entsprechen. Diese Wiederholungen nannte Haeckel Rekapitulationen. Stammesgeschichtlich ältere Merkmale würden durch Addition neuer Merkmale mehr und mehr in ein früheres Stadium der Embryonalentwicklung verdrängt. In der Ontogenese eines höheren Wirbeltieres fänden sich deshalb Merkmale primitiver Vorfahren am Anfang und die der unmittelbaren Vorgänger am Ende seiner Individualentwicklung (vgl. Abb. 269). 3. Der kausale Mechanismus: Vererbung erworbener Eigenschaften. Ähnlich wie Lamarck und Darwin ging Haeckel von einer direkten Weitergabe erworbener Eigenschaften an die Nachkommen aus. |
Deskriptive Aussagen des Biogenetischen Grundgesetzes |
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Die wichtigsten deskriptiven (=beschreibenden) Aussagen können wie folgt zusammengefasst werden: 1. Die Ontogenese des Individuums repräsentiert verkürzt die wichtigsten Formveränderungen der stammesgeschichtlichen Vorfahren (Adultformen) der eigenen Art. Danach repräsentieren einzelne embryonale Stadien jeweils ausgewachsene (adulte) Formen entsprechender Vorfahren. 2. Es existiert kein vollständig identisches Abbild der Phylogenese durch die Ontogenese. Haeckel schränkte von Anfang an sein Gesetz ein. Es müsse unterschieden werden zwischen Palingenesen, die frühere stammesgeschichtliche Stadien während der Individualentwicklung wiederholen (Rekapitulation), und den Caenogenesen, ontogenetisch notwendige, aber stammesgeschichtlich nicht verwertbare Neubildungen. Zu den Palingenesen zählte Haeckel z.B. beim Menschen die sogenannten Kiemenbögen und die Schwanzanlage. Das heißt: Diese Strukturen im menschlichen Embryo sollen auf evoluitve Vorfahren hinweisen (Fische bzw. später schwanztragende Säugetiere; vgl. aber Biogenetisches Grundgesetz - Beispiele). Dagegen sind z. B. die Entstehung des Dottersackes, der Allantois, der Plazenta, der Eihüllen (z.B. Amnion) und der Nabelschnur caenogenetisch zu bewertende Strukturen. Diese besagen nichts über das Aussehen der Vorfahren. Auch räumliche (Heterotopien) und zeitliche Verschiebungen (Heterochronien) im ontogenetischen Auftreten von Organen im Vergleich mit der zugrundegelegten Phylogenese berücksichtigte Haeckel. 3. Die Ontogenie repräsentiert erst allgemeine und später spezielle Merkmale der Art. In Anlehnung an die typologischen Vorstellungen von v. Baer (1828) im Gesetz der Embryonenähnlichkeit formulierte Haeckel: „Der Mensch ist demnach in den frühen Entwicklungsstufen nicht von den Embryonen der Vögel und Reptilien zu unterscheiden. Wenn auf noch frühere Stadien der Entwicklung zurückgegangen wird, wären keine Unterscheidungen zwischen den Embryonen dieser höheren Wirbelthiere und denjenigen der niederen, der Amphibien und Fische, aufzufinden“ (Anthropogenie 1877, S. 295). Schlussfolgerungen. Ausgehend vom Paradigma „Evolution“ suchte Haeckel mit dem Biogenetischen Grundgesetz „den engen, ursächlichen Zusammenhang ...“ (Welträthsel 1903, S. 36) zwischen Phylogenese und Ontogenese darzustellen und gleichzeitig einen methodischen Leitfaden für die Stammbaumrekonstruktion festzuschreiben. In den Grundgedanken des Biogenetischen Grundgesetzes finden sich frühere naturphilosophische Anschauungen (Stufenleiter, Typologie) in einer phylogenetischen Interpretation wieder (vgl. dazu den Expertentext Biogenetische Grundregel - Geschichte). Aufgrund von Zirkularitäten, falschen Grundannahmen, überzogenen Schlussfolgerungen (s.u.) und zweckorientierter Darstellungsformen musste er sich lebenslang mit wissenschaftlicher und persönlicher Kritik auseinandersetzen. Durch das Biogenetische Grundgesetz verlieh er der vergleichenden Embryologie jedoch einen enormen Forschungsstimulus. |
Kritik der kausalen Aussagen des Biogenetischen Grundgesetzes |
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Vom Zeitpunkt der Formulierung des Biogenetischen Grundgesetzes an gab es heftige Kontroversen über dessen inhaltlichen und methodischen Wert für die Biologie. Die Bandbreite der Reaktionen reichte von uneingeschränkter Akzeptanz bis zu kompletter Ablehnung. Problematisch erwies sich vor allem der methodische Ausgangspunkt Haeckels, die Abstammungslehre als bewiesene Tatsache zu deklarieren. Dies musste zwangsläufig zu Zirkelschlüssen bei der Interpretation ontogenetischer Daten führen. Im einzelnen können folgende Kritikpunkte angeführt werden: 1. Die Ontogenese ist unabhängig von Phylogenese verstehbar. Träfe der kausale Ansatz Haeckels zu, wäre ein Verständnis ontogenetischen Abläufe nur durch das Erforschen der Phylogenese möglich. Dagegen argumentierte bereits His (1868), der die Prozesse der Bildung von Organstrukturen unter Berücksichtigung mechanischer Gesetzmäßigkeiten zu erklären suchte. Blechschmidt (1961; 1973) führte die arttypische Formbildung im Verlauf der Ontogenese des Menschen auf differenziert agierende Stoffwechselfelder zurück (siehe Anhang zum Expertentext Biogenetische Grundregel - Geschichte). Im weiteren Verlauf der Forschung dokumentiert die in den letzten Jahrzehnten erfolgte Integration molekulargenetischer und experimenteller Erkenntnisse zur Beschreibung entwicklungsbiologischer Vorgänge eindrucksvoll die Unabhängigkeit des Verständnisses der Ontogenese von phylogenetischen Modellvorstellungen. Während für Haeckel die Ontogenese nur aus der Phylogenese erklärbar schien, favorisiert die Evolutionsforschung heute den umgekehrten methodischen Weg: Vom Verständnis der Ontogenese her sucht sie nach den kausalen Ursachen des phylogenetischen Wandels. 2. Ontogenetische und phylogenetische Bildungsprozesse unterliegen nicht den gleichen Mechanismen. Das gegenwärtige Wissen bezüglich der genetischen Grundlagen von Vererbungsprozessen spricht gegen die dem Biogenetischen Grundgesetz zugrunde liegende Annahme einer Vererbung erworbener Eigenschaften. Die experimentelle Embryologie entdeckte vielfältige Zusammenhänge der raumzeitlichen Steuerung der Entwicklungsvorgänge. Im epigenetischen Raum (Zellkern, Plasma, Zellmembran) gibt es ein kompliziertes Wechselspiel von Genotyp (=Summe der Erbanlagen) und Phänotyp (=äußere Erscheinungsform). Die Erforschung embryonaler Bildungsvorgänge erfährt gegenwärtig durch das wachsende Wissen über die Entwicklungssteuerungsgene (z.B. Homeobox-Gene) einen enormen Aufschwung. Die dabei erkannten Zusammenhänge raum-zeitlicher Regulationskaskaden liefern jedoch keinen Schlüssel zum Verständnis der Entstehung evolutionärer Neubildungen (siehe Artikel (Homeobox-Gene und Evolution). |
Kritik der deskriptiven Aussagen |
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Auch an des deskriptiven Aussagen der Haeckelschen Vorstellungen über den Zusammenhang von Ontogenese und Phylogenese muss Kritik geübt werden: 1. Die Gleichsetzung des Verlaufs der Ontogenese eines Organismus mit seiner Phylogenese ist nicht möglich. Haeckels Behauptung, dass die Gesamtheit der Formveränderungen eines Organismus während der Ontogenese denen seiner eigenen Stammesgeschichte entspricht, konnte durch vergleichende ontogenetische Studien nicht bestätigt werden. Es zeigte sich, dass Verschiebungen des zeitlichen Erscheinens und des örtlichen Auftretens (Heterochronien, Heterotopien) vieler Organe in der Ontogenese gegenüber ihrem vermuteten phylogenetischen Entstehen keine seltenen Ausnahmen, sondern die Regel sind. Auch der Vergleich von Ontogenesen stammesgeschichtlich eng verwandter Organismen (z.B. bei den Amniota) zeigt ausgeprägte Verschiebungen, zum Beispiel beim Erscheinen der Anlagen für das Herz oder der Augen, deren Wertung im Sinne einer Rekapitulation zu absurden Ergebnissen führen würde. Aufgrund dieser Situation versucht man weitestgehend nur noch, Rekapitulationen nur auf Organebene nachzuweisen. 2. In der Ontogenese eines Individuums treten keine Merkmale ausgewachsener stammesgeschichtlicher Vorfahren auf. Eine pauschale homologe Gleichsetzung adulter Merkmale rezenter Arten oder hypothetischer stammesgeschichtlicher Vorfahren mit embryonalen oder fetalen Bildungen ist nicht möglich. Zum Beispiel finden sich bei der embryonalen Ausbildung des vorderen Darmabschnittes der Reptilien und Säugetiere, der phylogenetisch aus dem Kiemendarm der Fische und Amphibien abgeleitet wird, niemals die funktionstüchtigen Kiemen mit Kiemenspalten oder Kiemenblättchen der angenommenen Ahnen. 3. Objektive Maßstäbe zur Unterscheidung von Palingenesen und Caenogenesen fehlen. Eine zweifelsfreie Kennzeichnung ontogenetischer Strukturen als palingenetisch oder caenogenetisch (s. o.) kann nicht aus ihnen selbst heraus erschlossen werden. Denn „die Entscheidung, ob in einer bestimmten Entwicklungsphase eine Caenogenese oder aber eine Palingenese vorliegt, kann erst dann exakt getroffen werden, wenn die Phylogenese bekannt ist“ (Siewing 1987, S. 271). Diese Voraussetzung ist jedoch nicht gegeben (vgl. Biogenetisches Grundgesetz - Beispiele). |
4. Der Weg der Ontogenese führt nicht „vom Allgemeinen zum Speziellen". Beim Vergleich immer jüngerer, „primitiverer“ ontogenetischer Entwicklungsstadien verschiedener Organismen sollte eine zunehmende Ähnlichkeit der Keime nachweisbar sein. Die Ontogenese eines Individuums verliefe danach über Stufen, bei denen zunächst einfache bzw. allgemeine und erst später spezieller konstruierte Formen der Organe und Strukturen wie in der Phylogenese sichtbar werden. Auch diese These ist widerlegt worden. So kann bei den Wirbeltieren von einer zunehmenden Ähnlichkeit der Keime beim Vergleich immer jüngerer ontogenetischer Entwicklungsstadien keine Rede sein. Die Furchungstypen der befruchteten Eizelle, die Blastula bzw. Blastozystenbildung, die Gastrulation und die Mesodermbildung sowie die Neurulation (=Bildung des Nervensystems) zeigen bei Amphibien, Reptilien, Vögeln und Säugern deutliche Unterschiede (Abb. 270-272). |
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Als wichtige und von vielen auch als einzig mögliche Methode der Erforschung der Stammesgeschichte mittels Ontogenese wird dagegen der indirekte Weg angesehen. Dabei werden ontogenetisch auftretende Merkmale mit embryonalen und adulten (=ausgewachsenen) Strukturen anderer Arten verglichen, um Homologien (vgl. Artikel Ähnlichkeiten in der Morphologie und Anatomie) zu ermitteln. Die auf diese Weise bestimmten Homologien können evolutionstheoretisch u. U. als Rekapitulationen gedeutet und damit als Hinweise auf stammesgeschichtliche Zusammenhänge verstanden werden. Beispiele für so ermittelte Rekapitulationen sind die embryonalen Zahnanlagen bei Bartenwalen, die Anlage des primären Kiefergelenkes bei Säugetieren, die Chorda dorsalis bei den Säugern, die Bildung von Krallen beim Schopfhuhn-Nestling (Hoatzin) oder die Änderung der Lobenlinien im Verlauf der Ontogenese bei Ammoniten. Die als Rekapitulation gedeuteten Entwicklungen gelten häufig als „Umwegentwicklungen“, da sie scheinbar „unnötig kompliziert“ verlaufen. Die embryonale Anlage der Visceral- oder Pharyngealbögen („Kiemenbögen“), der Chorda dorsalis (elastischer Stab aus Knorpelgewebe) oder des Ductus Botalli (Blutgefäß zwischen Lungen- und Körperschlagader) bei Säugetieren erscheint danach unökonomisch und historisch bedingt. Nur bestimmte Restfunktionen bzw. die Übernahme anderer, sekundärer Aufgaben im Organismusgefüge hätten sie im Verlauf der Evolution konserviert. Diese Erklärungen verlieren jedoch mehr und mehr an Boden. So dient z.B. die Chorda bei Säugetieren als Platzhalter und Induktor für die spätere Bildung der Wirbelsäule und des Neuralrohres. Die Zahnanlagen bei zahnlosen Säugetieren sind unverzichtbar für die formgerechte Kieferentwicklung. Der Nutzen vorübergehend in der Ontogenese auftretender Organe ist offensichtlich. Dabei dürfen Organe nie isoliert betrachtet werden, um ihre funktionelle Bedeutung richtig einzuschätzen. |
Weitere Fragen zu diesem Thema |
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