Ungeachtet dieser bis heute unwidersprochenen Aussage Pasteurs sind die Bemühungen, „Leben" auf Lebloses, auf „Nicht-Leben" zurückzuführen, nicht aufgegeben worden - im Gegenteil: es wurden seit dem 20. Jahrhundert große theoretische und experimentelle Anstrengungen mit dem Ziel unternommen, die Entstehung des Lebens rein naturwissenschaftlich zu erklären. Auch wenn heute Leben nicht von selbst entstehe, so könne dies in der Vergangenheit doch anders gewesen sein. So wird argumentiert, dass auf der Erde früher andere Bedingungen geherrscht hätten, die eine abiotische (=ohne Voraussetzung von Leben) Entstehung des Lebens möglich erscheinen lassen. Ziel dieser Forschungen ist es, die einzelnen Schritte zur Entstehung des Lebens möglichst lückenlos aufzuklären und allein durch chemisch-physikalische Prozesse verständlich zu machen.
A.I. Oparin veröffentlichte 1924 eine Arbeit, worin er unter Berücksichtigung des damaligen Kenntnisstandes der Chemie, Biochemie und Biologie detailliert über die Entstehung des Lebens spekulierte. Diese Publikation gilt als der Anfang der modernen naturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesem Problem.
Oparin benützt vor allem die Erkenntnisse von Graham (1861) über die Eigenschaften von Kolloiden (Lösungen großer Moleküle mit leimartigen Eigenschaften) als Ausgangspunkt für seine Spekulation über die Lebensentstehung, indem er das Zellplasma damit vergleicht. Er meint, aus der Fähigkeit von Kolloiden, Stoffe an der Oberfläche zu binden (Adsorption), Hinweise für den Anfang von Stoffwechsel finden zu können. Seinen programmatischen Artikel beschließt Oparin mit einem für dieses Forschungsfeld bisher zwar nicht eingelösten, aber nach wie vor kaum gebrochenen Optimismus: „Die Arbeit ist bereits weit fortgeschritten und sehr bald werden die letzten Barrieren zwischen lebendig und tot fallen unter dem Angriff geduldiger Arbeit und mächtiger wissenschaftlicher Gedanken." 1938 erschien die englische Ausgabe von Oparins umfangreicherer Arbeit Origin of Life (1936 in russisch). Diese Arbeit fand eine breite Leserschaft und beeinflusste viele Wissenschaftler.
Für J.B.S. Haldane sind Bakteriophagen (=Bakterien auflösende Viren) der Ausgangspunkt für seine Spekulationen über die Lebensentstehung. In seiner Veröffentlichung von 1929, die er nach eigenem Bekunden unabhängig von Oparin publizierte, bewertet er die Homochiralität (=gleiche Rechts-Links Ausrichtung, Händigkeit) von Molekülen (vgl. Chiralität) als ein Indiz für die Abstammung aller Lebewesen von einer einzigen zufällig entstandenen ersten Zelle. Haldane hält allerdings fest, dass die Idee einer spontanen Lebensentstehung solange Spekulation bleibe, „bis die ersten Lebewesen in biochemischen Laboratorien synthetisiert worden sind." Er führt diesen Gedanken so zu Ende: „Aber solche Spekulationen sind nicht unnütz, weil sie experimentell bestätigt oder widerlegt werden können."
Der Beginn der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Fragen der Lebensentstehung wird gewöhnlich mit den Veröffentlichungen von Oparin (1924, 1938) und Haldane (1929) angesetzt und der Anfang systematischer experimenteller Untersuchungen mit den Simulationsexperimenten von Miller (1953) (s. Ursuppen-Simulationsexperimente) in Verbindung gebracht. Diese Autoren hatten jedoch bereits Vorläufer. So hat Pflüger schon 1875 über die Bedeutung von Cyanwasserstoff (HCN) im Zusammenhang mit präbiotischen Synthesen spekuliert und Löb (1913) Aminosäuren aus Ammoniak, Kohlensäure und Wasser unter Einwirkung von stiller Entladung synthetisiert. |
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