Die dunkle Materie wird auch durch Gravitationslinsen bestätigt. Eine Gravitationslinse ist ein massenreiches Vordergrundsystem (z.B. ein Galaxienhaufen), das weit entfernte, dahinter liegende Galaxien durch Lichtablenkung verzerren oder sogar mehrmals erscheinen lassen kann (Abb. 156). Die Stärke der beobachteten Gravitationslinsen legen ebenfalls nahe, dass mehr Masse vorhanden sein muss, als durch die Leuchtkraft von Galaxienhaufens dokumentiert ist.
Theoretische Überlegungen. Aber auch theoretische Überlegungen geben Anlass für die Existenz von dunkler Materie. So wird die dunkle Materie für die Strukturbildung des Universums benötigt (siehe Standardmodell). Überlegungen bezüglich der primordialen Nukleosynthese (=Elementbildung in der frühen Ära des Standardmodells durch Kernfusion) (siehe Standardmodell, Häufigkeit der leichten Elemente im Universum) geben vor, dass der Menge an baryonischer (=umfasst in der Kosmologie Neutronen, Protonen und Elektronen) Materie enge Grenzen gesetzt sind, die 5% Prozent der kritischen Dichte des Universums nicht übersteigen darf. Die kritische Dichte ist die Materiedichte, bei deren Unterschreitung sich das Universum für immer ausdehnt. Diese Schranke fordert, dass die dunkle Materie nicht-baryonisch ist, d.h. für uns exotisches Material darstellt mit speziellen Eigenschaften.
Kandidaten der dunklen Materie. Woraus besteht die dunkle Materie? Ein kleiner Teil der dunklen Materie kann baryonisch sein. Kandidaten für baryonische dunkle Materie sind beispielsweise braune Zwerge (sternähnliche dunkle Objekte) oder massive schwarze Löcher. Theoretische Überlegungen zeigen aber, dass der Anteil dieser dunklen Materie eher gering ist. Der direkte Nachweis solcher Materie in unserer Milchstraße ist zudem bisher nicht zweifelsfrei gelungen (Beck 2003).
Der weitaus größte Teil der dunklen Materie muss aber aus einem exotischen Stoff bestehen, der gewöhnlich als WIMP (weakly interacting massive particle) bezeichnet wird, da er weder mit Licht noch mit gewöhnlicher Materie wechselwirkt. Er macht sich nur über die Gravitation bemerkbar. Zahlreiche konkrete Kandidaten für diese exotische Materie wurden vorgeschlagen wie Axionen, Gravitinos, Monopole, massive Neutrinos etc., die alle aus bestimmten Theorien vorausgesagt werden, die vor allem in der Frühzeit des Universums eine Rolle spielten (z.B. GUT, SUSY). Allen außer den Neutrinos ist gemeinsam, dass es für sie keinen experimentellen Anhaltspunkt gibt - weder in Laborexperimenten noch im Universum. Bei den Neutrinos ist allerdings nicht klar, wie groß ihre Ruhemasse wirklich ist. Gemäß dem Standardmodell der Teilchenphysik haben sie gar keine, neuere Experimente deuten aber auf eine winzige Ruhemasse hin. Zudem sind massive Neutrinos nicht die geeignetsten Kandidaten, da sie zur sog. heißen dunklen Materie gehören. Gemäß den Daten des Mikrowellenhintergrundes durch den Satelliten WMAP wird diese Art der dunklen Materie aber ausgeschlossen (Spergel et al. 2003).
Kommentar. Insgesamt ist das Konzept der dunklen Materie im Universum äußerst unbefriedigend. Nach den Vorgaben des Standardmodells soll das Universum aus einem mysteriösen, unbeobachteten Stoff bestehen, der in etwa der 5fachen Menge vorhanden sein muss, wie die gewöhnliche Materie. Dabei existieren kaum gesicherte Anhaltspunkte, woraus diese dunkle Materie bestehen soll. Einige der Argumente, die auf die dunkle Materie hindeuten, wurden darum auch schon ernsthaft in Frage gestellt und gelegentlich sogar ihre ganze Existenz.
Bemerkenswert ist außerdem, dass es auch Kosmologien gibt, die baryonische dunkle Materie ohne Schranke zulassen wie die Quasi-steady-state cosmology oder die ganz und gar ohne dunkle Materie auskommen (z.B. die Kosmologie von Halton Arp). Das Standardmodell dagegen versucht, ein Universum zu modellieren, dessen Hauptbestandteil völlig unbekannt ist. |
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Möglicherweise noch mysteriöser als die dunkle Materie ist die dunkle Energie. Die dunkle Energie ist eine ganz merkwürdige Form von Materie oder sogar eine Eigenschaft des Vakuums, die durch einen starken negativen Druck charakterisiert ist. Das bedeutet, dass diese Energie im Gegensatz zur gewöhnlichen und dunklen Materie abstoßend wirkt statt anziehend. Darum sorgt die dunkle Energie für eine Beschleunigung des Universums.
Kosmologische Konstante. Die dunkle Energie wird formal durch die berühmte kosmologische Konstante Λ ausgedrückt, die in der Friedmanngleichung (=mathematische Gleichung für die Dynamik des Universums) auftaucht (siehe Standardmodell). Interessanterweise benutzte Albert Einstein in seinem ersten Modell eines Universums die kosmologische Konstante, um die Anziehungskraft der übrigen Materiedichte zu kompensieren. Auf diese Weise erhielt er ein statisches Universum, das jedoch nicht stabil war. Als dann die Ergebnisse von Hubble über das sich ausdehnende Universum bekannt wurden, zog Einstein sein Modell zurück und bezeichnete das Einführen der kosmologischen Konstante als seine „größte Eselei“ (siehe Historische Entwicklung der modernen Kosmologie). Seither wurde die kosmologische Konstante entweder ganz weggelassen oder Null gesetzt. Seit einigen Jahren wird ein Wert ungleich Null jedoch wieder diskutiert, da er offensichtlich durch einige Beobachtungen nahegelegt wird und zudem einige Probleme lösen kann. Auch in diesem Fall profitierte das Standardmodell von seiner Flexibilität.
Nahegelegt wird eine nichtverschwindende kosmologische Konstante durch Beobachtungen an Supernovae (=Sternexplosionen), die mit zunehmender Rotverschiebung schneller an Helligkeit verlieren als erwartet. Andererseits bestärken die Daten des Mikrowellenhintergrundes durch den Satelliten WMAP ebenfalls einen ähnlichen Wert von Λ.
Fine tuning. Außerdem ist die kosmologische Konstante noch mit einem schwerwiegenden theoretischen Problem verbunden: Der Wert der kosmologischen Konstante, die durch die Quantenfeldtheorie (=grundlegende Theorie für das Standardmodell der Teilchenphysik) vorausgesagt wird und die die Inflation ausgelöst haben soll, ist viel höher als ihr heute abgeleiteter Wert. Dabei ist das Verhältnis von Beobachtung zur Theorie nicht weniger als 108 Größenordnungen (das entspricht einem Faktor von 10-108)! Was könnte dazu geführt haben, dass die kosmologische Konstante so präzise um 108 Größenordnungen sank? Da wäre ein hochgradiges Maß an „fine-tuning“ nötig, das bisher unverstanden ist. Würde zudem die kosmologische Konstante nur wenig von ihrem heutigen Wert abweichen, wäre das Universum nach den Voraussagen des Standardmodells nicht lebensfreundlich.
Kommentar. Mit der dunklen Energie wurde neben der dunklen Materie eine zweite Größe eingeführt, die in ihrem Wesen unverstanden ist und nicht beobachtet wurde. Die Daten von MWAP legen einen Beitrag der dunklen Energie zur gesamten Materiedichte von etwa 73% Prozent nahe. Die restliche Materiedichte besteht schließlich praktisch aus dunkler Materie (etwa 23%), womit nur etwa 4% des Universums aus gewöhnlicher Materie besteht (Abb. 157). |