Beispielsweise spricht Geyer (1998) vom „abrupten Auftreten von Metazoen- [Vielzeller-] Gruppen, deren hochgradige Verschiedenartigkeit in ihrem Ausmaß rätselhaft bleibt. Schon im Unterkambrium, oder zumindest bis zum späteren Kambrium, tauchen fast alle heutigen Stämme auf, daneben aber auch Metazoen, die sich nicht oder nur unter Zurechtbiegen der Diagnosen in die gängigen Tiergruppen einordnen lassen". Denn zu den auch heute vertretenen Tierstämmen kommen zahlreiche Formen, deren taxonomische Stellung unklar oder umstritten ist und die den kambrischen Reichtum an Tiergestalten noch erheblich vergrößern. So beschreibt Gould (1991) unter den Fossilien des Burgess-Schiefers in Britisch-Kolumbien (Kanada) 20 neue Tierstämme mit großen Bauplan-Unterschieden, die er als „irre Wundertiere" bezeichnet; die äußerst vielgestaltigen Arthropoden nennt er „einzigartige Gliederfüßer" mit einem „Maximum an anatomisch leistungsfähigen Möglichkeiten". Seiner Meinung nach übertreffen die Burgess-Fossilien „wahrscheinlich das gesamte Spektrum des wirbellosen Lebens in den heutigen Ozeanen" (vgl. Abb. 187). Andere Paläontologen sind zurückhaltender. Sie meinen, dass das damalige Tierspektrum nicht so groß war wie Gould annimmt und kritisieren die Aufstellung so zahlreicher neuer Tierstämme. Doch wie immer man diese Funde auch taxonomisch einordnet, es ändert nichts an der erstaunlichen Verschiedenartigkeit kambrischer Tiergestalten.
Die hauptsächlichen Unterschiede zwischen den Bauplänen der Tierwelt waren damit von Beginn der dokumentierten Fossilüberlieferung vielzelliger Organismen bereits vorhanden. Schon Darwin hatte diese Vielfalt der kambrischen Fossilien als Problem für seine Theorie vermerkt. In einer aktuellen Monographie stellt Valentine (2004) fest, dass sich diese markante Diskontinuität seither durch viele Forschungen bestätigt hat. Unter den kambrischen und den wenigen präkambrischen Formen finden sich kaum Fossilien, die die verschiedenen Stämme miteinander verbinden, aber auch diese wenigen Ausnahmen eignen sich nicht als evolutionäre Übergangsformen. Der Grund dafür ist, dass einzelnen verbindenden Merkmalen solcher Formen Merkmalskomplexe gegenüberstehen, die eine Übergangsstellung ausschließen.
Valentine (2004, S. 31, 35) stellt fest, dass von keinem einzigen Stamm die Vorläufer bekannt sind, ebenso ist der Weg der Entstehung aller Klassen der Wirbellosen unbekannt (zu den taxonomischen Einheiten siehe Abb. 44). Einige präkambrische Fossilien sind ihrerseits so sehr verschieden von den kambrischen, dass ihr Ursprung selbst im Dunkeln liegt. Nachfolgende Veränderungen (d. h. die Differenzierung innerhalb der Stämme oder der Klassen) sind zwar immer noch sehr erheblich, aber in ihrem Ausmaß geringer als während der postulierten, aber fossil fast überhaupt nicht belegten vorkambrischen Evolution. „Was danach noch an evolutiven Transformationen erfolgte, waren bei aller Formenvielfalt im Grunde nur Variationen der in der kambrischen Revolution etablierten Grundbaupläne" (Seilacher 1992, 19). |
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Worauf die kambrische Explosion zurückzuführen ist, konnte bisher nicht geklärt werden. Die häufig geäußerte Ansicht, die evolutionär zu fordernden Vorläufer seien aufgrund der Zartheit ihres Baus oder aufgrund schlechter Fossilisationsbedingungen nicht gefunden worden, kann nicht überzeugen, da über 400 Fundstellen im Präkambrium bekannt sind, die so zarte Geschöpfe wie Mikrofossilien (einzellige Organismen), Algen u.a. bergen. Aus demselben Grund ist die Ansicht kritisch zu bewerten, dass die Vorläufer sehr klein, vielleicht sogar mikroskopisch klein gewesen seien und daher unentdeckt blieben. Außerdem ist diese Annahme derzeit reine Spekulation. Valentine (2004, S. 463) weist in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass in kleinerem Maßstab auch nach dem Erwerb von Hartteilen regelmäßig ein explosives Auftreten von niederrangigeren Taxa zu beobachten sei.
Nach der Theorie vom „freien Raum" konnten die vielen Baupläne sich deshalb so schnell entwickeln, weil viele unbesetzte ökologische Nischen vorhanden waren. Abgesehen davon, dass es sich auch hier um eine bloße Spekulation handelt, gab es nach verbreiteter Auffassung auch sonst in der Erdgeschichte Phasen mit vielen freien ökologischen Nischen; dennoch sind keine neuen Grundbaupläne entstanden.
Es werden auch ökologische Gründe diskutiert. Beispielsweise treten im Unterkambrium phosphathaltige sog. „small shelly" (kleine Schalen)-Fossilien zeitgleich mit phosphatführenden Sedimenten auf und verschwinden mit deren Ausklingen. Die nachfolgenden Organismen besitzen dagegen Karbonate als vorrangiges Baumaterial. In diesem Zusammenhang ist beachtenswert, dass nicht nur die Tiergestalten, sondern auch ganze Ökosysteme in komplexer Form plötzlich auftauchen und ebenso plötzlich wieder verschwinden.
Schließlich wurde im Zuge der Entdeckung der Regulationsgene (Hox-Gene) die Idee geäußert, dass durch geringfügige Änderungen bei Regulationsgenen große morphologische Änderungen eintreten könnten. Doch dies wäre nur möglich, wenn entsprechende Strukturelemente bereits latent vorhanden sind. Deren Herkunft wird durch Hox-Gene und deren Mutationen jedoch nicht erklärt (vgl. Homeobox-Gene und Evolution). |