17.12.07 Der Wurmfortsatz als Rettungsstation
Eines der schlagkräftigsten und meistgenannten Argumente gegen das Verständnis der belebten Welt als „Schöpfung“ ist die Existenz nutzloser oder gar schädlicher Organe, die als evolutionär rückgebildet (rudimentär) gedeutet werden (vgl. Rudimentäre Organe). Solche vermeintlichen Konstruktionsfehler bei den Lebewesen besitzen eine starke Suggestivwirkung; das Argument ist leicht eingängig und oft nur mit großem Aufwand schlüssig zu widerlegen (vgl. Ullrich et al. 2006 zum Bau des Linsenauges der Wirbeltiere, online: http://www.wort-und-wissen.de/sij/sij131/sij131-1.html). Von den Texten auf Genesisnet ist der Artikel über „Rudimentäre Organe“ fast jeden Monat unter den Top Ten der am meisten aufgerufenen Artikel. Unter den rudimentären Organen dürfte der Wurmfortsatz (Appendix) des menschlichen Blinddarms das populärste Beispiel sein. Etwa 1/7 der Europäer bereitet dieses 5-10 cm lange und 0,5 -1 cm dicke Anhängsel des Blinddarms so ernsthafte Probleme, dass eine operative Entfernung notwendig ist. Ohne Einsatz von Antibiotika war früher ein durchbrochener entzündeter Wurmfortsatz akut lebensbedrohlich. Der Nutzen dieses Gebildes schien dagegen unerheblich zu sein, wenn überhaupt davon gesprochen werden konnte. Kein Wunder also, dass der Wurmfortsatz als Paradebeispiel gegen eine durchdachte, geplante Schöpfung galt.
Allerdings gab es schon länger Zweifel daran, dass der Wurmfortsatz des Menschen rückgebildet sei. Der Grund: Der Bau der menschlichen Appendix ist einzigartig, und die meisten Säugetiere besitzen keinen Wurmfortsatz, auch nicht die als nächste Verwandte des Menschen geltenden Großaffen. Er ist sonst nur noch vom Kaninchen und zwei Beuteltierarten (Opossum und Wombat) bekannt (Bollinger et al. 2007). Wie kann er unter diesen Umständen rückgebildet sein? „Das sporadische Vorkommen der Appendix in der Stammesgeschichte dürfte nahelegen, dass diese Struktur eher evolutionär abgeleitet ist und einer spezifischen Funktion dient, als in ihr ein bloßes Überbleibsel eines vormals wichtigen Verdauungsorgans zu sehen“ (Bollinger et al. 2007, 827).
Aufgrund seiner Verbindung mit lymphatischem Gewebe wurde der Appendix eine Funktion in der Immunabwehr zugeschrieben, diesem Umstand verdankt dieses Gebilde seine gelegentliche Bezeichnung als „Dickdarmmandel“. Allerdings war die genaue Funktion bis vor kurzem unklar. Aus diesem Grund hat sich vermutlich die Idee gehalten, es handle sich beim Wurmfortsatz um eine Rückbildung; so Bollinger et al. (2007).
Eine Studie der amerikanischen Forscher William Parker und Mitarbeiter kam bezüglich der Funktion des Wurmfortsatzes nun zu interessanten Ergebnissen. Sie fanden heraus, dass die Appendix des Menschen eine Art Zufluchtsort („safe house“) und Rettungsstation für symbiotische Bakterien darstellt, die das Wachstum nützlicher Darmbakterien fördert und bei durchfallbedingten Darmentleerungen die Wiederbesíedlung mit diesen Bakterien ermöglicht bzw. erleichtert (Bollinger et al. 2007). Diesen Bakterien fällt die Aufgabe zu, die Ausbreitung gefährlicher Krankheitserreger im menschlichen Verdauungstrakt zu verhindern, was besonders nach Durchfallerkrankungen sehr wichtig ist.
Die Forscher entdeckten diese Zusammenhänge, als sie das Zusammenleben der verschiedenen Bakterien im Darm untersuchten. Der menschliche Darm trägt an der Innenseite eine Art Biofilm, der sich aus Bakterien, Schleim und Substanzen des Immunsystems zusammensetzt. Im Appendix ist er besonders stark ausgeprägt. Bei Durchfallerkrankungen geht dieser Biofilm großen Teilen des Verdauungstrakts verloren. Eine Zuflucht finden die nützlichen Bakterien jedoch im Wurmfortsatz und können so die Erkrankungen überstehen, um anschließend den Darm wieder zu besiedeln und ihre Schutzwirkung neu zu entfalten. Beispielsweise verhindern sie, dass sich gefährliche Bakterien niederlassen.
Angesichts der Tatsache, dass der Wurmfortsatz eine solch bedeutende Funktion besitzt, stellt sich die Frage, warum seine operative Entfernung keine nennenswerten Nachteile hat. Die Forscher erklären dies damit, dass in Ländern mit hohen hygienischen Standards der Schutz durch die gutartigen Bakterien des Wurmfortsatzes nicht mehr notwendig sei. Die nützlichen Bakterien des Wurmfortsatzes kommen dort kaum zum Einsatz. Daher werde auch das Immunsystem zu wenig stimuliert, so dass es zu Überreaktionen neige. Das verursache Entzündungen des Wurmfortsatzes, die allerdings auch durch bestimmte Essgewohnheiten gefördert werden.
Nach der Wissenschaftlergruppe legt der Funktionsnachweis der Appendix die Schlussfolgerung nahe, dass es sich nicht um ein rückgebildetes Organ handelt. Vielmehr ist der Wurmfortsatz für eine bedeutsame Funktion offensichtlich optimal eingerichtet. Der Wurmfortsatz hat damit eine eindrucksvolle Karriere vom nutzlosen, ja gefährlichen Überbleibsel zum optimal konstruierten Organ hinter sich.
Das steht auch in Übereinstimmung mit den (eingangs erwähnten) vergleichenden Befunden (seltenes Vorkommen der Appendix, dazu nur in Säugetiergruppen, die nicht als nahe Verwandte des Menschen gelten).
Eine von Anderson et al. bereits 2001 gemachte Beobachtung, dass Patienten mit einer immunologisch bedingten chronisch entzündlichen Darmerkrankung (Colitis ulcerosa) von einer Appendektomie (Entfernung des Wurmfortsatzes) vor dem 20. Lebensjahr profitieren, unterstützt die hier von Parker belegte funktionelle Bedeutung der Appendix. Bei der genannten Erkrankung kommt es durch autoimmun bedingte Mechanismen zu einer Selbstzerstörung der Darmschleimhaut, die damit hochgradig anfällig für Entzündungen wird. In diesem Fall wirkt sich das Vorhandensein des Wurmfortsatzes mit seinem Arsenal an normalerweise nützlichen Bakterien zum Nachteil des Patienten aus, weil diese in dieser Situation für den Betroffenen zur ständigen Infektionsquelle werden und die krankhafte Immunmodulation des Darmes forcieren. Das Auftreten der Colitis ulcerosa, so schließt Anderson, kann zeitlich deutlich nach hinten verschoben und das Ausmaß der Erkrankungsstärke erheblich reduziert werden, wenn der Wurmfortsatz bei diesen Patienten zeitig entfernt wird.
Quellen
Andersson RE, Olaison G, Tysk C et al. (2001) Appendectomy and protection against ulcerative colitis. N. Engl. J. Med. 344, 808-814.
Bollinger RR, Barbas RS, Bush EL, Lin SS & Parker W (2007) Biofilms in the large bowel suggest an apparent function of the human vermiform appendix. J. Theor. Biol. 249, 826-831.
Ullrich H, Winkler N & Junker R (2006) Zankapfel Auge. Ein Paradebeispiel für „Intelligent Design" in der Kritik. Stud. Int J. 13, 3-14. http://www.wort-und-wissen.de/sij/sij131/sij131-1.html Autor dieser News: Reinhard Junker Informationen über den Autor
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