03.06.09 Ein Fund der „alles ändert“?
Was hat „Tante Ida“ mit dem Menschen zu tun?
Als „sensationeller Fund, nach dem die Wissenschaft von der Entstehung des Menschen neu überdacht werden muss“, als langgesuchtes Bindeglied, als „Meilenstein“, gar als „achtes Weltwunder“1 wurde ein Fossil bezeichnet, das kürzlich der Öffentlichkeit vorgestellt wurde.2 Darwinius masillae, auf 47 Millionen Jahre datiert und etwas eingängiger auf „Ida“ getauft, machte in den letzten Wochen enorm viel von sich reden. Das Fossil schmückte sogar einen Tag lang das Google-Logo. Es handelt sich um ein weibliches Jungtier, das vom Kopf bis zur Spitze des langen Schwanzes 58 Zentimeter misst und wegen seines schlanken Körperbaus und dem langen Schwanz den Lemuren ähnelt. Lemuren sind Halbaffen, die auf Madagaskar leben. Ida fehlen aber die charakteristischen vorstehenden Schneidezähne, die als Kamm der Fellpflege dienen, und die „Putzkralle“ am zweiten Zeh. Das ist ein besonders gestalteter Zeigefinger, der typisch für diese Halbaffen ist. Andere Merkmale weisen in Richtung der Entwicklung des Menschen, so der Sprunggelenksknochen. Ein großer, den übrigen Fingern gegenüberstehender Daumen weist darauf hin, dass das Tier gut greifen und klettern konnte und vermutlich auf Bäumen lebte.3
Der Enthusiasmus ist in einer Hinsicht auf jeden Fall berechtigt: Es handelt sich um ein außerordentlich gut erhaltenes Fossil und um den am besten erhaltenen Primaten, der jemals als Fossil gefunden wurde. Neben 95 % des Skeletts sind auch Körperumrisse und der Mageninhalt erhalten. Wirklich fantastisch.4 Dabei schlummerte das kostbare Stück ein Vierteljahrhundert lang bei einem Privatsammler in der Schublade, ehe es von Wissenschaftlern einer Forschergruppe um Jörn Hurum von der Universität Oslo gekauft und zwei Jahre lang untersucht wurde. Entdeckt wurde es in der berühmten Fossillagerstätte Messel, einer Ölschiefergrube bei Darmstadt. Aber wegen der hervorragenden Erhaltung alleine hätte man die Veröffentlichung dieses Fundes sicher nicht in diesem Ausmaß in der Presse inszeniert. Viel wichtiger ist die Einschätzung als „der bei weitem älteste Vorfahre von uns Menschen“ (ZDF, Terra X).
Kritik. Doch die wissenschaftliche Diskussion über „Ida“ hat gerade erst begonnen. Jens L. Franzen, einer der Bearbeiter, gab in einem Radiobeitrag zu Protokoll, dass es noch Diskussionen und verschiedene Meinungen zur Einordnung des Fossils geben werde. Das Wissenschaftsmagazin Science zitierte in einem Internetartikel den Paläontologen Elwyn Simons: „Es ist ein außerordentlich gut erhaltenes, wundervolles Exemplar, aber es erzählt uns nicht viel mehr, als wir schon wussten.“5 Manche Forscher tendieren dazu, das Tier als einen indirekten Verwandten des Menschen zu interpretieren. Nach Franzen wäre „Ida“ zwar „nicht unsere Ur-Ur-Ur-Großmutter, aber vielleicht unsere Ur-Ur-Ur-Großtante“.6
Chris Beard vom Carnegie Museum of Natural History sieht den Fund noch kritischer7: Ida sei kein missing link, jedenfalls nicht zwischen menschenähnlichen (anthropoiden) Formen und primitiveren Primaten. Weitere Studien müssten zeigen, ob es zwischen anderen Mitgliedern der Adapiformes aus dem Eozän vermittelt, aber das würde kaum den Status als achtes Weltwunder rechtfertigen. Ähnlich kritisch äußert sich auch Callum Ross, Paläontologe der University of Chicago.8
Die Adapiformes bilden eine Linie, die nach evolutionstheoretischen Vorstellungen zu den heutigen Lemuren führt. Idas Merkmale passen gut zu dieser Gruppe.9 Um in einer Verbindung zu anthropoiden Formen stehen zu können, müsste Ida entsprechende Merkmale besitzen; hierin scheitere Ida „kläglich“. Im Stammbaum nimmt das Fossil daher eine Position ein, die deutlich von der Linie abgesetzt ist, die zum Menschen führen soll.10
Kritisch angemerkt wird auch, dass Hurum und sein Team nur 30 bis 40 statt der üblichen 200 bis 400 Merkmale des Fossils mit denen anderer Funde verglichen hätten; außerdem fehlten wichtige Arten in diesem Vergleich. Die gut ins Bild passenden Rosinen seien herausgepickt worden, Hinweise auf Fossilienanalysen der vergangenen Jahre würden fehlen.11 Außerdem seien in der Originalarbeit die letzten 15 Jahre der Forschung nicht berücksichtigt worden.
In einem neueren kritischen Science-Artikel merkt auch Gibbons an, dass viele führende Wissenschaftler, die sich mit der Evolution der Primaten befassen, Ida nicht als Vorfahren des Menschen, sondern als Verwandte der Lemuren ansehen; das Skelett liefere wenig neue Information über alte Primaten, noch weniger über den Ursprung des Menschen. Einige befürchten, dass der Pressewirbel um Ida nach hinten losgehen werde, wenn die wahre Identität von Ida offenbar würde und dass Glaubwürdigkeit verloren gehe.12
Vermarktung. Die Veröffentlichung des Fossils wurde ungewöhnlich reißerisch vermarktet. Seltsam mutet an, dass nach Angaben der New York Times in den USA die Entdeckung von Ida in TV-Clips mit dem Slogan „This changes everything“ angekündigt wurde.13 Wie kann dieser Fund „alles ändern“, wenn er angeblich die Evolution des Menschen bestätigt, die doch schon längst bewiesen sein soll? Der Bearbeiter Hurum verteidigte den Aufwand mit den Worten: „Jede Popgruppe tut dasselbe. Jeder Sportler macht das. Wir müssen beginnen, in der Wissenschaft auch so zu denken.“14 Angesichts der tatsächlichen Bedeutung des Fossils kann man sich nicht des Eindrucks erwehren, dass das breite Publikum bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf Evolution eingeschworen werden soll. In der Originalarbeit15 ist jedenfalls von „missing link“ oder „revolutionär“ nirgends die Rede. Der Kontrast zwischen der marktschreierischen Präsentation in der Öffentlichkeit und der tatsächlichen Bedeutung des Fossils gemäß den Einschätzungen der Wissenschaftler ist nicht zu übersehen.
Anmerkungen
1 "Für mich ist dieses Fossil das achte Weltwunder, so was hat die Welt noch nicht gesehen", sagt Dr. Jens Franzen, ein führender Paläontologe und ausgewiesener Spezialist für Fossilien vom Senckenbergmuseum Frankfurt. (ZDF, Terra X)
2 „Uraffen-Fossil löst medialen Wirbel aus!“ (http://science.orf.at/science/news/155791): „Mehrere Fernsehsender griffen zu und warfen eine gewaltige Werbemaschinerie an.“
3 Franzen JL, Gingerich PD, Habersetzer J, Hurum JH, von Koenigswald W, et al. (2009) Complete Primate Skeleton from the Middle Eocene of Messel in Germany: Morphology and Paleobiology. PLoS ONE 4(5): e5723. doi:10.1371/journal.pone.0005723
4 Viele Bilder gibt es im frei zugänglichen Originalartikel (s. Anm. 3), oder auch unter der Internetadresse von Anm. 11
5 nach http://www.welt.de/wissenschaft/evolution/article3779751/Ida-und-die-ganz-grosse-Show-um-den-missing-link.html
6 http://www.welt.de/die-welt/article3771505/Wissenschaft.html
7 http://www.newscientist.com/article/dn17173-why-ida-fossil-is-not-the-missing-link.html?full=true&print=true
8 Gibbons A (2009) „Revolutionary“ Fossil Fails to Dazzle Paleontologists. ScienceNOW Daily News, 19 May 2009, http://sciencenow.sciencemag.org/cgi/content/full/2009/519/1
9 „Like all adapiforms, Ida lacked a ‚toothcomb’ at the front of her lower jaw – a structure that living lemurs use for grooming fur. Ida also lacked a ‚grooming claw’ on her second toe, another difference from living lemurs. Otherwise, Ida's overall proportions and anatomy resemble that of a lemur, and the same is true for other adapiform primates.“
10 siehe Abbildung unter http://www.newscientist.com/data/images/ns/cms/dn17173/dn17173-1_500.jpg
11 Gibbons (2009) (s. Anm. 8); vgl. http://www.br-online.de/bayern2/iq-wissenschaft-und-forschung/fossil-vorfahre-mensch-ID1242807873161.xml?_requestid=747968
12 Gibbons A (2009) Celebrity Fossil Primate: Missing Link or Weak Link? Science 324, 1124-1125.
13 http://www.stern.de/wissenschaft/mensch/:Uraffen-Fossil-Ida-Kritik-Sensationsfund/701371.html
14 s. Anm. 13; in Science (Anm. 12) wird Hurum wie folgt zitiert: „It’s hard to discuss haplorrhine and strepsirrhines in a press release. You need to link it with us.“
15 siehe Anm. 3 Autor dieser News: Reinhard Junker Informationen über den Autor
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