27.10.09 Vierflügelige Vögel am Anfang?
Der Fund eines vierflügeligen Vogels scheint eine evolutionstheoretische Vorhersage zur Entstehung der Vögel zu bestätigen, aber er stellt auch bisherige Vorstellungen in Frage. Das neu entdeckte Exemplar aus der Gattung Anchiornis besaß gut ausgebildete Federn und ist älter als der bisher älteste unumstrittene Vogel, der „Urvogel“ Archaeopteryx. Ein solcher Fund war erwartet worden. Das „zeitliche Paradox“, dass Formen mit gut ausgebildeten Federn vor solchen mit sogenannten Protofedern fossil auftauchen, löst dieser Fund jedoch nicht. Anchiornis stützt die Hypothese, dass am Anfang der Vogelevolution vierflügelige Formen standen. Die zuletzt favorisierte Hypothese, dass der Vogelflug ausgehend von schnell laufenden zweibeinigen Dinosauriern erworben wurde, wird damit in Frage gestellt.
In den letzten Monaten wurde eine Reihe von Entdeckungen gemacht, die neue Bausteine zur Kenntnis über die ältesten Vögel beisteuerten. Manche entsprechen teilweise evolutionstheoretischen Erwartungen, andere sind diesbezüglich eher überraschend (vgl. „Vögel doch nicht Nachfahren der Dinos?“ http://www.scinexx.de/wissen-aktuell-10026-2009-06-10.html und Wellnhofer 2009).
Als lang gesuchter Mosaikstein in der Evolution der Vögel wird die Gattung Anchiornis gewertet, von der kürzlich ein sehr gut erhaltenes Exemplar beschrieben wurde (Hu et al. 2009). Bisher hatte die unter Evolutionsforschern fast einhellig vertretene Theorie, dass Vögel von zweibeinig sich fortbewegenden Raubdinosauriern (Theropoden) abstammen, mit einem „zeitlichen Paradox“ zu kämpfen. Denn es sind zwar zahlreiche Theropoden bekannt, die Federn oder (z. T. umstrittene) federähnliche Strukturen besaßen, aber sie wurden alle in meist deutlich jüngeren Schichten als der sogenannte „Urvogel“ Archaeopteryx entdeckt. Dessen Federn aber gleichen im Wesentlichen den Federn heutiger Vögel. Man konnte daher erwarten, dass Formen mit Federvorstufen in Schichten zu finden sein sollten, die älter sind als die Oberjuraschichten des Altmühltals, in denen die Archaeopteryx-Fossilien entdeckt wurden.
Der als vogelähnlicher Dinosaurier bezeichnete Anchiornis huxleyi erfüllt nun einerseits diese Erwartung, denn der neue Fund dieser Gattung stammt aus Schichten, die etwas älter als Archaeopteryx sind (Beginn des Oberjura, datiert auf 151-161 Millionen Jahre). Andererseits ist diese Gattung vierflügelig, was nicht ohne Weiteres den Erwartungen für Vogelvorfahren entspricht (s. u.). Das zur Familie der Troodontidae gerechnete Tier hatte gut ausgebildete Federn an Armen und Beinen und damit vier Flügel, ähnlich wie der Dromaeosaurier Microraptor. und die Gattung Pedopenna, die zu den Avialae gerechnet wird. Vorderarm, Hand, Unterschenkel und Fuß hatten jeweils 10-13 lange Schwungfedern. Anders als bei Archaeopteryx und bei Microraptor lag der breitere Teil des Flügels zum Körperzentrum hin. Dennoch halten die Beschreiber Hu et al. (2009) Anchiornis nicht für flugfähig, da die sehr langen Unterschenkel eher auf eine laufende Lebensweise hinweisen würden. Das lange und umfassende Federkleid passe allerdings wiederum dazu nicht.
Federn an den Beinen kommen bei vielen heutigen Vögeln wie auch sehr wahrscheinlich bei Archaeopteryx vor und haben Schutzfunktion und dienen dem Wärmehaushalt. Sie sind dort aber nicht wie bei Anchiornis, Microraptor und Pedopenna in einer zusammenhängenden ebenen Oberfläche angeordnet. Daher ist zu vermuten, dass die Beinfedern dieser fossilen Formen eine andere Funktion hatten, vermuten Hu et al. (2009).
Da die Federn gut ausgebildet sind, bleibt es aber auch mit diesem neuen Fund beim oben erwähnten zeitlichen Paradox, dass Fossilien mit als Protofedern interpretierbaren Strukturen erst deutlich später bekannt sind als solche mit „fertigen“ Federn. (Die Interpretation als „Protofedern“ ist zudem nicht gesichert; vgl. http://www.wort-und-wissen.de/sij/sij131/sij131-5.html.)
Die bisher bekannten vierflügeligen Formen unter den vogelähnlichen Dinosauriern sind nicht näher miteinander verwandt (Hu et al. 2009, Witmer 2009). Ihre weite taxonomische Verbreitung spricht evolutionstheoretisch betrachtet dafür, dass die Vorfahren der Vögel vierflügelig waren. Diese Hypothese war mit der 2003 entdeckten Gattung Microraptor diskutabel geworden (damals übrigens eine völlig unerwartete Entdeckung, wie Witmer vermerkt). Solange mit Microraptor nur eine einzige vierflügelige Gattung bekannt war, neigte man dazu, vierflügelige Formen als gescheitertes frühes „Experiment“ der Vogelevolution anzusehen. Mit den weiteren Funden hat sich die Situation nun geändert. Allerdings ist damit die Vorstellung fragwürdig geworden, dass die Vögel von zweibeinig laufenden Theropoden abzuleiten sind. Denn gut ausgebildete Federn an den Beinen passen kaum zu schnellen Läufern. Schneller Lauf gilt aber eine Voraussetzung für die Entstehung des Flugs, ausgehend vom Boden. Damit steigt die Baumtheorie der Flugentstehung wieder im Kurs. Witmer hält die Frage nach der Entstehungsweise des Vogelflugs wieder für offen. Wie Anchiornis geschickt und schnell mit langen Federn laufen konnte (wofür eigentlich die langen Beine sprechen), erfordere „ernsthafte Überlegungen“.
Bemerkenswert ist auch, dass es offenbar mosaikartig verteilte Merkmalskonstellationen bei den frühen vierflügeligen Formen gibt; Witmer spricht von einem „mix-and-match“ und Hu et al. (2009, 462) konstatieren ein komplexes Muster der morphologischen (=die Gestalt betreffend) Evolution und eine schnelle Diversifizierung (=Verschiedenwerden) im Mittel- und frühen Oberjura, die im Zusammenhang mit paläogeographischen (=Geographie in geologischer Vergangenheit) Veränderungen stehen könnte. Die drei vierflügeligen Gattungen sind nach cladistischen Analysen auf verschiedenen evolutiven Ästen angesiedelt; der neue Fund kommt als Vorfahre von Archaeopteryx nicht in Frage (Witmer 2009).
Die rasch auftretende Formenvielfalt früher Vögel und die mosaikartige Merkmalsverteilung könnten als Indizien für ein nicht-evolutionäres, ökologisches Szenario gewertet werden: Das Heraustreten bereits existenter Formen aus geologisch nicht überlieferten Lebensräumen (Stephan 2002) und eine anfangs größere Vielfalt von Formen. Gerade die in den letzten Jahrzehnten explosiv zugenommene Vielfalt fossiler Vögel und vogelähnlicher Dinosaurier zeigt bunte Merkmalsmosaike, die evolutionstheoretisch zahlreiche Konvergenzen und Rückentwicklungen (z. B. auch den mehrfachen Verlust von Flugfähigkeit) erfordern. Außerdem muss eine schnelle Differenzierung angenommen werden (s. o.). Kürzlich wurde auch eine Studie über vogelartige Spuren veröffentlicht, die am ehesten und zwanglos als Spuren von Strandvögeln interpretiert werden können (Genise et al. 2009). Sie werden aber ca. 50 Millionen Jahre älter datiert als Archaeopteryx und der hier vorgestellte Anchiornis – ein Hinweis auf geologisch nicht überlieferte Lebensräume? Ein solches Szenario würde unterstützt, wenn gezeigt werden könnte, dass die betreffenden Fundschichten schnell entstanden sind und das Auftreten der Formenvielfalt in einen kurzen Zeitrahmen gestellt werden kann. Dies kann derzeit aber nur als Projekt für die Schöpfungsforschung formuliert werden.
Literatur
Genise JF, Melchor RN, Archangelsky M, Bala LO, Straneck R & de Valais S (2009) Application of neoichnological studies to behavioural and taphonomic interpretation of fossil bird-like tracks from lacustrine settings: The Late Triassic–Early Jurassic? Santo Domingo Formation, Argentina. Palaeogeography, Palaeoclimatology, Palaeoecology 272, 143-161.
Hu D, Hou L, Zhang L & Xu X (2009) A pre-Archaeopteryx troodontid theropod from China with long feathers on the metatarsus. Nature 461, 460-463.
Stephan M (2002) Der Mensch und die geologische Zeittafel. Holzgerlingen.
Wellnhofer P (2009) Protofedern bei Vogelbeckensauriern? Nat. Rdsch. 62, 311-312.
Witmer LM (2009) Feathered dinosaurs in a tangle. Nature 461, 601-602. Autor dieser News: Reinhard Junker Informationen über den Autor
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