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20.01.10  Wie entstehen neue Gene?

Es wird ein Beispiel der Entstehung eines Gens beschrieben, das nicht durch Duplikation (Verdopplung) eines schon vorhandenen Gens, sondern aus nicht-codierenden Genbereichen („intergenic DNA“) entstanden ist. Dabei handelt es um Teile des Erbguts, die nicht in Proteine übersetzt werden und deren Funktion bisher nur teilweise aufgeklärt ist. Möglicherweise sind die Forscher angelegten Möglichkeiten im Erbgut auf der Spur.

Die Antwort auf die Titelfrage in Lehrbüchern lautet: Neue Gene entstehen durch Genduplikation. D.h. im Zusammenhang mit einer Zellteilung werden beim Kopieren des Genoms (=Erbgut) in einem Chromosom zufällig zwei Kopien eines Gens eingebaut. Das eine erfüllt nun wie bisher die Funktion als Bauanleitung für ein Protein, während in der zweiten Kopie zufällige Veränderungen (Mutationen) „ausprobiert“ werden können, ohne dass dies für den Organismus negative Folgen haben muss. Diese Erklärung ist deshalb besonders plausibel, weil man für die Übersetzung (Translation) eines Gens nicht nur den entsprechenden DNA-Abschnitt für das Protein selbst benötigt, sondern auch noch eine ganze Reihe weiterer Signalsequenzen in der Nähe des Gens, welche die Translation starten und zur Regulation – auch der Bearbeitung (Processing) – dienen. Es ist vergleichsweise unwahrscheinlich, dass durch zufällige Änderungen im Genom (wie z.B. durch verschiebbare Genelemente, sog. „transposable elements“) ein neues funktionsfähiges Gen entsteht, denn dann müssten auch noch alle notwendigen Signalsequenzen in der jeweils korrekten Position entstehen, damit das Gen auch wirklich in ein Protein übersetzt werden kann. Bei einer Genduplikation könnten diese zusätzlichen DNA-Sequenzen ebenfalls dupliziert sein und damit ein „neues“ Gen vergleichsweise einfach exprimiert (=abgelesen (und damit nutzbar gemacht)) werden.

In der Arbeitsgruppe von Diethard Tautz am MPI für Evolutionäre Biologie wurde jetzt ein Gen1 der Hausmaus (Mus musculus) beschrieben, das nach Ansicht der Autoren (Heinen et al. 2009) in den vergangenen 2,5-3,5 Millionen Jahren entstanden ist. Das Gen befindet sich in einem großen nicht codierenden Bereich (intergenic DNA), der auch in vielen anderen Säugern, einschließlich des Menschen vorkommt. Nach derzeitiger Erkenntnis geht man davon aus, dass beim Menschen weniger als 5% der DNA für Proteine kodiert (ca. 21 000 Gene), die übrige DNA (> 95 %) erfüllt ihre Aufgabe auf andere Weise, sie wird oft als nicht codierend bezeichnet.2

Aus ihren Befunden schließen Heinen et al., dass das von ihnen untersuchte Gen weder durch Genduplikation noch durch verschiebbare Genelemente (transposable elements) oder andere Umorganisationen im Genom entstanden sein kann. Das Gen besteht aus 3 Exons (das sind codierende DNA-Abschnitte, die durch Introns voneinander getrennt sind, letztere werden im sog. Processing herausgeschnitten und die Exons werden miteinander verknüpft); die Exons können auch unterschiedlich zusammengesetzt werden (alternatives Spleißen). Das Gen wird ausschließlich in Hodenzellen ausgeprägt, und zwar in Spermienzellen nach der Meiose (Reduktionsteilung). Das Gen funktioniert nach bisheriger Erkenntnis ausschließlich in Mäusen (auch dort nicht in allen Vertretern der Gattung Mus). Wenn es ausgeschaltet wird (knockout-Laborstämme), werden Hoden mit geringerem Gewicht und Spermien mit reduzierter Beweglichkeit gebildet.

Cai et al. (2008) hatten bereits früher ein neu entstandenes proteincodierendes Gen in Hefe (Saccharomyces cerevisiae) beschrieben. Dieses war aber bereits als nicht-codierendes Transkript (also ein RNA-Abschnitt, der nicht zur Herstellung eines Proteins dient) in anderen Arten vorhanden, bevor der Genabschnitt eine Funktion erhielt.

Heinen et al. nannten das von ihnen beschriebene neue Gen „Poldi“ (nicht primär nach dem bekannten Fußballprofi, sondern als Abkürzung von Polymorphic derived intron-containing); es ist das erste Transkript (s. o.), von dem klar gezeigt werden konnte, dass es neu aus nicht-codierenden Genbereichen (intergenic DNA) entstanden ist.

Heinen et al. sind überzeugt davon, dass es sich bei dem von ihnen beschriebenen Phänomen von neu entstandenen Genen durchaus nicht um einen seltenen Vorgang handelt. Für Poldi konnten sie nachweisen, dass die spezifischen Sequenzen für das Spleißen der drei Exons sowie Poly-A-Sequenzen bereits in der intergenic DNA vorhanden waren. Die Autoren sprechen hier von verborgenen Signalen (cryptic signals) und spekulieren darüber, dass die Entstehung neuer Gene in diesem Fall durch vergleichsweise einfache Promotoren (DNA-Sequenzen, die die Expression eines Gens veranlassen und regulieren) für die Expression nach der Reduktionsteilung (Meiose) sowie durch gegensätzliche Mechanismen in geschlechtsspezifischen Geweben begünstigt worden sein könnten.

Wenn zukünftig noch weitere auf diese Weise neu entstandene Gene nachgewiesen werden können, wovon Heinen et al. ausgehen, dann sollten bei der Suche nach Erklärungen auch alternative Ansätze geprüft werden. Vielleicht handelt es sich bei den „verborgenen Signalen“ ja auch um „eingebaute“ Optionen, die im Genom nicht neu entstehen, sondern angelegt sind.3 

Anmerkungen

1 Es handelt sich dabei um ein sogenanntes Transkript, also in RNA umgeschriebene DNA-Sequenz. Wie das RNA-Molekül die beschriebenen Funktionen erfüllt, ist bisher kaum bekannt.  

2 Dazu gehören auch Pseudogene, die oft als „fossile Gene“ bezeichnet und verstanden werden. Dabei handelt es sich um DNA-Sequenzen mit auffallender Ähnlichkeit zu funktionsfähigen Genen. Pseudogene werden nicht in Proteine übersetzt, da ihnen notwendige Signalsequenzen in der Umgebung fehlen, außerdem finden sich dort auch Mutationen. Erstaunlich ist allerdings, dass man derzeit etwa so viele Pseudogene wie Gene kennt (sogar eher mehr) und dass von einigen Pseudogenen eindeutig Funktionen nachgewiesen sind. Derzeit sind also Pseudogene bestenfalls ansatzweise verstanden und man sollte vorsichtig sein, sie als evolutionär bedingte Fossilien zu betrachten, wenn man nicht ähnliche Erfahrungen wie bei der sog. „junk-DNA“ wiederholen will, die vorschnell und fälschlicherweise als evolutionärer Müll eingestuft wurde. Für Interessierte sei der lesenswerte Artikel von Gerstein & Zheng (2007) empfohlen. 

3 Für Pseudogene (s. Fußnote 1) kann man entsprechende Überlegungen anstellen. Die bei Pseudogenen nachgewiesenen (und noch weiter zu erwartenden) Funktionen schwächen das Argument, dass es sich bei Pseudogenen (verstanden als durch Mutation funktionslos gewordene ursprüngliche Gene) um „vererbte Fehler“ handelt. Ähnlichkeiten von „fehlerhaften“ Genen bei unterschiedlichen Organismen wären dann nicht notwendigerweise als vererbte Fehler zu interpretieren sondern sie könnten funktionsbedingt sein.

Literatur

Cai J, Zhao R, Jiang H & Wang W (2008) De novo origination of a new proteincoding gene in Saccharomyces cerevisiae. Genetics 179, 487-496.

Gerstein M & Zheng D (2007) Das heimliche Wirken der Pseudogene. Spektr. Wissenschaft (4), 58-64 (http://www.spektrumverlag.de/artikel/866416)

Heinen TJAJ, Staubach F, Häming D & Tautz D (2009) Emergence of a new gene from an intergenic region. Curr. Biol. 19, 1527-1531.

Autor dieser News: Harald Binder

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