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17.06.10  Künstliche Zellen - oder wurde gar Leben erzeugt?

Ende Mai dieses Jahres erregte eine Veröffentlichung von J. C. Venter und einem umfangreichen Team aus seinen Instituten großes Aufsehen (Sciencexpress: doi 10.1126/science.1190719). Die Wissenschaftler beschrieben darin den erfolgreichen Versuch, ein konstruiertes, im Labor erzeugtes Erbgut (DNA) in Bakterien einzubauen, so dass deren Eigenschaften von der künstlichen DNA geprägt werden. Venters Arbeiten werden in diesem Newsbeitrag beschrieben und bewertet.

Nachdem die Forscher zunächst das Erbgut von Mycoplasma-Bakterien (Mycoplasma genitalium 1995; später weitere Arten) analysiert und sequenziert hatten, haben sie in den vergangenen Jahren Methoden entwickelt, um nicht nur einzelne Gene herzustellen, sondern das gesamte Erbgut (Genom) im Labor zu erzeugen. Dazu haben sie auch E. coli-Bakterien und Hefezellen benutzt. Mit erheblichem technischem Aufwand kann man DNA-Fragmente mit einer vorgegebenen Sequenz von der Länge von ca. tausend Nukleotiden (Basenpaare, bp) synthetisieren. Diese Bausteine wurden von einer Firma industriell gefertigt. Das Genom von Mycoplasma mycoides umfasst allerdings mehr als 1 Million bp. Um ein Genom dieser Größe herzustellen nutzten die Autoren E. coli-Bakterien und veränderte Hefezellen. In mehreren Durchgängen konnten sie so größere DNA-Konstrukte aus 10 000 bp, 100 000 bp und schließlich das gesamte Genom mit 1 077 947 bp herstellen. Das künstliche Genom, das weitgehend dem natürlichen Vorbild nachgebaut worden war, enthielt auch Abschnitte, die als „Wasserzeichen“ dienten, und weitere Gene zur Selektion und Identifizierung des semisynthetischen Genoms.

Nun wurde das nachgebaute M. mycoides-Genom in die Zellen eines nahe verwandten Bakteriums (Mycoplama capricolum) verpflanzt. Die Autoren konnten nachweisen, dass unter den ausgewählten Bedingungen M. capricolum-Kulturen wuchsen, die sich unter dem Einfluss des M. mycoides-Genoms wie M. mycoides verhielten.

Die einzelnen Schritte dieses Projekts waren über Jahre entwickelt worden, dabei wurde eine Vielzahl neuer Methoden etabliert und eine Fülle von Problemen musste überwunden und gelöst werden. In dieser jüngsten Veröffentlichung sind nun alle diese Schritte in einem Projekt mit dem derzeit umfangreichsten künstlich hergestellten Genom durchgeführt worden. Das stellt eine ungeheure innovative technische Leistung dar und zeigt die Spitze dessen, was mit großem Aufwand heute im Labor machbar ist.

Qualitätskontrolle. Die Autoren beschreiben ein Detail, das die Herausforderungen, die bei einem solchen Projekt auftreten, erahnen lässt. Die Synthese des Genoms muss fortlaufend mit einer leistungsfähigen Qualitätskontrolle gekoppelt sein. Das Projekt war mehrere Wochen blockiert, da eine einzige Base (in einem Genom von mehr als einer Million bp!) in einem essentiellen Gen fehlte. Diese eine Base machte das gesamte Genom inaktiv, d. h. es konnte nicht erfolgreich in Empfängerzellen übertragen werden.

Mit diesem Projekt wurde nun nicht nur ein Organismus gentechnisch manipuliert, indem ein bzw. wenige Gene verändert wurden, sondern hier wurde ein komplettes Genom im Labor hergestellt und dann in eine (lebendige!) Empfängerzelle übertragen und zwar unter Bedingungen, die diese Zelle dazu veranlassen, das neue, semisynthetische Genom zu aktivieren. Dies wurde z. B. dadurch demonstriert, dass man die gesamten Proteine (Proteom), die die Zellen biosynthetisch herstellen, bei beiden Bakterienarten mit einander verglichen hat. Die M. capricolum-Zellen mit dem künstlichen Erbgut zeigten tatsächlich das für M. mycoides typische Proteom-Muster.

Wie ist diese Arbeit zu bewerten? Zuerst muss die technisch innovative Leistung der Autoren nochmals betont und anerkannt werden, mit der die Autoren die Biotechnologie in verschiedenen Bereichen vorangetrieben und damit neue Dimensionen eröffnet haben. Andererseits ist schon die Frage, ob es sich bei dem künstlichen M. mycoides-Genom um ein „synthetisches“ handelt, differenziert zu beantworten. Man kann derzeit ein Genom selbst dieser für Lebewesen bescheidenen Größe von ca. einer Million bp nicht allein durch chemische Synthese herstellen. Für den Zusammenbau der synthetisierten Fragmente wurden lebende Kulturen von E. coli und modifizierten Hefezellen eingesetzt.

Des Weiteren sind die Empfängerzellen selbst lebendig, sie werden nur in einem bisher ungeahnten Umfang manipuliert (indem ihr Genom gegen ein anderes, künstlich hergestelltes ausgetauscht wird). Das Ergebnis fordert unsere etablierten Vorstellungen von Lebewesen heraus, wenn man ein Bakterium durch die Einführung eines anderen Genoms in Bakterien eines anderen Stamms umwandeln kann. Die Autoren betonen zwar, dass mit ihrer Arbeit gezeigt worden sei, dass man Zellen konstruieren könne, indem man ihr Genom im Computer entwirft. Diese Aussage ist insofern einzuschränken, als das in der Arbeit hergestellte Genom weitestgehend (!) dem natürlichen Vorbild des M. mycoides-Genom entspricht. Um Genome selbst zu entwerfen zu können, verstehen wir eine lebende Zelle noch viel zu wenig und wissen wir zu wenig darüber.

Venter und seine Mitarbeiter bezeichnen die von ihnen erzeugten Bakterien als „synthetische Zellen“. Dieser Anspruch erscheint nicht gerechtfertigt und irreführend. Das biochemisch erzeugte Proteinmuster der Zellen ist zwar durch das künstliche Genom bestimmt und nach mehr als 30 Zellteilungen sind praktisch keine Proteine der ursprünglichen Empfängerzelle mehr vorhanden. Der Begriff „synthetische Zellen“ spiegelt jedoch eine extrem stark reduktionistische Betrachtungsweise wieder, die davon ausgeht, dass das Genom das Wesentliche einer lebenden Zelle darstellt. Das ist zwar ein äußert populärer Gedanke, aber zum jetzigen Zeitpunkt alles andere als erwiesen. Die gesamte biochemische Grundausstattung der Empfängerzelle bringt diese mit und ohne diese wäre eine erfolgreiche Genom-Transplantation nicht erfolgreich durchzuführen. Leben hat Venter also nicht erschaffen, sondern Teile von Lebewesen als Vorlage genutzt und nachgebaut sowie sich des Lebens selbst bedient, um  die so synthetisierten Bausteine erfolgreich zu verknüpfen.

Literatur 

Gibson DG, Glass JI, Lartigue C, Noskov VN, Chuang R-Y, Algire MA, Benders GA, Montague MG, Ma L, Moodie MM, Merryman C, Vashee S, Krishnakumar R, Assad-Garcia N, Andrews-Pfannkoch C, Denisova EA, Young L, Qi Z-Q, Segall-Shapiro TH, Calvey CH, Parmar PP, Hutchinson III CA, Smith HO & Venter JC (2010) Creation of a bacterial cell controlled by a chemically synthesized genome. Science, doi: 10.1126/science.1190719

 

Autor dieser News: Harald Binder

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