21.06.11 Die Entstehung neuer Enzyme – ganz einfach?
Die evolutionäre Entstehung eines Enzyms mit neuen funktionellen Eigenschaften im pflanzlichen Sekundärstoffwechsel aus einem vorhandenen Enzym des Primärstoffwechsels konnte durch experimentelle und vergleichend-biologische Untersuchungen plausibel gemacht werden. Die experimentell erfolgten Einzelschritt-Änderungen von Aminosäurebausteinen waren jede für sich selektionspositiv. Die hier vorgestellte Entstehung neuer Enzymfunktionen ist jedoch gemessen an den bisher bekannten Variationsmechanismen nicht überraschend und kann als Ausdruck einer bereits angelegten Polyvalenz im Wechselspiel von Genen und der durch sie codierten Proteinen interpretiert werden.
Pflanzen sind gegen Fraß nicht wehrlos: So nutzen viele Kreuzblütler wie das Wiesenschaumkraut (Cardamine pratensis) oder die viel untersuchte Acker-Schmalwand (Arabidopsis thaliana) Senfölglykoside, um sich gegen Fraßfeinde (z. B. Raupen) zur Wehr zu setzen. Diese „Senfölbomben“ sind sekundäre Stoffwechselprodukte und werden bei Beschädigung der Pflanze zur Abwehr gegen den Schädling freigesetzt. Forscher des Max-Planck-Instituts für chemische Ökologie in Jena haben nun eine interessante Entdeckung gemacht: Ein Enzym, das für die Bildung der Senfölglykoside benötigt wird – Methylthioalkylmalat-Synthase (MAM) – ist in seiner Struktur dem Stoffwechselenzym Isopropyl-Malat-Synthase (IPMS) sehr ähnlich (de Kraker & Gershenzon 2011). Die IPMS hat aber eine ganz andere Funktion, sie ist bei der Bildung der Aminosäure Leucin beteiligt und damit Teil des Primär-Stoffwechsels.
Die beiden Enzyme unterscheiden sich in nur zwei bedeutsamen strukturellen Merkmalen: Bei MAM fehlen im Vergleich zur IPMS die letzten 120 Aminosäuren und in seinem aktiven Zentrum sind zwei Aminosäuren ausgetauscht. (Weitere vorhandene Unterschiede haben offenbar keinen Einfluss auf die Struktur und die Funktion der Enzyme.) Das bei der MAM fehlende letzte Stück hat bei der IPMS die Funktion einer Rückkopplung: Ist genügend Leucin vorhanden, wird die Produktion der IPMS gedrosselt. Fehlt diese 120-Aminosäure-Kette, geht die Produktion unvermindert weiter und kann nicht mehr kontrolliert werden. Das Fehlen dieser Kette hat weiter zur Folge, dass sich das verkürzte IPMS-Enzym anders faltet; die Architektur (Quartärstruktur) ist anders als zuvor. Die Verkürzung der Kette wirkt sich auch auf das aktive Zentrum aus, so dass das verkürzte IPMS größere Moleküle binden kann und nun die Bildung von Vorstufen der Senfölglykolsiden anstelle der Bildung von Leucin unterstützt.
Aufgrund dieser Beobachtungen schlagen de Kraker & Gershenzom (2011) folgendes evolutionäre Szenario vor: Ausgangsstoff für die Entstehung der MAM, also des Enzyms, das bei der Bildung der Senfölglykoside benötigt wird, ist die um 120 Aminosäuren längere IPMS. Dessen codierendes Gen wurde zunächst verdoppelt (Gen-Duplikation). Anschließend ging beim Duplikat die 120-Aminosäuren-Kette verloren, was die oben beschriebenen Auswirkungen zur Folge hatte. Die dadurch veränderte Substrataffinität zu größeren Molekülen wurde weiter durch Punktmutationen, die das aktive Zentrum trafen, optimiert, so dass das heute vorliegende MAM entstand.
De Kraker & Gershenzom (2011) haben dieses hypothetische Szenario in Laborexperimenten nachgestellt und die oben beschriebene Abfolge simuliert. Somit konnten sie zeigen, dass dieser Weg in der Geschichte der Kreuzblütler-artigen Pflanzen (Ordnung Brassicales) so abgelaufen sein könnte. Dies sei ein Beispiel dafür, dass ein Enzym aus dem Primärstoffwechsel für einen anderen Zweck im Sekundärstoffwechsel rekrutiert (sozusagen „zweckentfremdet“) wurde, so die Autoren.
Welche Schlussfolgerungen können aus diesen Beobachtungen und Experimenten gezogen werden? Zunächst legt diese Untersuchung nahe, dass Enzyme mit neuen Eigenschaften bzw. Fähigkeiten ohne gezielten Eingriff entstehen können. (Die experimentelle Rekonstruktion wurde geplant und geschah gezielt, macht aber plausibel, dass ein evolutiver Vorgang so abgelaufen sein könnte.) Die Entstehung der neuen Funktion kann über Einzelschritte (einzelne Mutationen) nachvollzogen werden, die jeweils selektierbar waren. Es muss nicht angenommen werden, dass mehr als eine Mutation gleichzeitig auftreten musste, um zum nächsten selektierbaren Zustand zu gelangen.
Im Vergleich zur bisher bekannten Variationsfähigkeit der Lebewesen und deren Grenzen ist dieser Vorgang nicht überraschend (vgl. Behe 2007). Erstaunlich ist aber, dass durch relativ einfache Änderungen – Genduplikation, Verlust, Punktmutation – aus einem Enzym des Primärstoffwechsels ein Enzym des Sekundärstoffwechsels mit einer grundsätzlich anderen Funktion werden kann. Es ist festzuhalten, dass der Ausgangspunkt ein funktionales Enzym war und die neue Funktion im Wesentlichen auf einen Verlust zurückzuführen ist (die nachfolgenden Punktmutationen im aktiven Zentrum führten lediglich zu dessen Optimierung).
Welche Schlussfolgerungen können nicht gezogen werden? Inwieweit dieses Beispiel verallgemeinert werden kann, müssen weitere Beispiele zeigen. Junker & Scherer (2006, 144f.) schildern schon länger bekannte Beispiele der Entstehung einer neuen Substratspezifität, bei denen allerdings die neue Funktion relativ ähnlich wie die bisherige bleibt.
Eine Verallgemeinerung und Übertragung der von De Kraker & Gershenzom vorgeschlagenen Mechanismen auf die Entstehung anderer Enzyme ist nur möglich, wenn es sich um Änderungen handelt, bei denen jeder einzelne Schritt selektierbar ist. Die Studie kann die generelle Frage jedoch nicht beantworten, ob auf evolutivem Wege Änderungen von Enzymstrukturen und ihren Funktionen möglich sind, die mehr als einen Schritt benötigen, um von einem selektierbaren Zustand zum nächsten zu gelangen.
Ob also die Entstehung neuer Enzyme „oft verblüffend einfach“ ist, wie die AG Evolutionsbiologe eine Newsmeldung überschreibt, muss sich erst noch zeigen (vgl. http://ag-evolutionsbiologie.de/app/download/4566099102/kraker-gershenzon-2011.html). Schwer zu beurteilen und auf der Basis naturwissenschaftlicher Argumentation vorerst nicht entscheidbar bleibt die Frage, ob es sich bei den dargestellten strukturell-funktionellen Änderungen um einen evolutionär-glücklichen Zufallstreffer oder um eine vorprogrammierte Situation handelt. Letztere wäre dann Ausdruck einer angelegten Polyvalenz im Wechselspiel von Genen und der durch sie codierten Proteine im Netzwerk der globalen zellulären Stoffwechselprozesse. Die vorgestellten Befunde erlauben beide Interpretationsmöglichkeiten.
Literatur
Behe M (2007) Edge of Evolution. The search for limits of Darwinism. Free Press, New York.
De Kraker JW & Gershenzon J (2011) From Amino Acid to Glucosinolate Biosynthesis: Protein Sequence Changes in the Evolution of Methylthioalkylmalate Synthase in Arabidopsis. The Plant Cell 23, 38-53.
Junker R & Scherer S (2006) Evolution – ein kritisches Lehrbuch. Gießen. Autor dieser News: Reinhard Junker Informationen über den Autor
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