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04.08.11 Fällt eine Ikone vom Sockel?
Ein neuer Fund könnte den berühmten Urvogel Archaeopteryx degradieren
Ein neuer Fossilfund eines befiederten, etwa huhngroßen Dinosauriers aus der Gruppe der Theropoden zeigt deutliche Ähnlichkeiten mit dem berühmten „Urvogel“ Archaeopteryx. Eine Merkmalsanalyse unter Einbeziehung dieser neuen Gattung führt zum Ergebnis, dass Archaeopteryx in die Gruppe der Deinonychosauria gestellt werden muss, die evolutionstheoretisch nicht als Vorläufergruppe der Vögel betrachtet werden kann. Damit würde Archaeopteryx seinen Status als „Urvogel“ verlieren. Dennoch sind die Konsequenzen für evolutionstheoretische Interpretationen eher gering. Die neue Gattung Xiaotingia vergrößert die Vielfalt früher befiederter Dinosaurier. Aufgrund des häufigen Auftretens von Mosaikformen mit Merkmalswidersprüchen und damit einhergehenden verbreiteten Konvergenzen (=Entstehung ähnlicher Strukturen von unähnlichen Vorstadien) ergeben sich Probleme für das Verständnis evolutionärer Abläufe, andererseits ist diese Situation aus der Sicht des Schöpfungsparadigmas leichter verstehbar.
Ausgerechnet zum 150. Geburtstag seiner Erstbeschreibung gibt es schlechte Nachrichten für den berühmten Urvogel Archaeopteryx: Er soll gar kein Vogel gewesen sein. Das gilt jedenfalls, wenn man den Untersuchungen an einem neuen Fund eines hühnergroßen, befiederten Dinosauriers – Xiaotingia zenghi – und den daran anknüpfenden Deutungen folgt, die eine chinesische Forschergruppe veröffentlicht hat (Xu et al. 2011; Bild unter http://scienceblogs.com/pharyngula/upload/2011/07/xiaotingia.php). Xiaotingia gehört zu den Theropoden, das sind zweibeinige, meist relativ kleine Raubdinosaurier, die evolutionstheoretisch in die nähere Verwandtschaft zu den Vögeln gestellt werden. Die stratigraphische und damit zeitliche Einordnung ist unsicher, da das Fossil von einem Fossilienhändler erworben wurde und daher der genaue Fundort unbekannt ist. Nach Auffassung von Xu et al. (2011) stammt der Fund aus der Tiaojishan-Formation des Oberjuras in der chinesischen Provinz Liaoning, diese Formation wird auf etwa 155 Millionen Jahre datiert, womit Xiaotingia geringfügig älter ist als Archaeopteryx.
„An icon knocked from ist perch“ – Eine Ikone wurde von ihrem Ast gestoßen – mit dieser reißerischen Zeile überschreibt denn auch der Paläontologie Lawrence M. Witmer seinen Kommentar zur Originalarbeit von Xu et al. in Nature. Mit der „Ikone“ ist Archaeopteryx gemeint, von dem seit 1861 mindestens zehn Exemplare in den Plattenkalken des fränkischen Altmühltals gefunden wurden. In der Tat ist Archaeopteryx das Sinnbild für eine evolutionäre Übergangsform. Seinen Merkmalsmix aus reptiltypischen und vogeltypischen Merkmalen muss jeder Gymnasiast lernen, der das Fach Biologie bis zum Abitur belegt.
Warum soll Archaeopteryx „kein Vogel mehr“ sein?1 Wie aber kommt es, dass Archaeopteryx seinen prominenten Platz als Urvogel verliert, ohne dass es eine einzige neue Erkenntnis über ihn gibt? Die Antwort liegt im Procedere der Cladistik, einem systematischen Verfahren, das auf der Basis von Merkmalsvergleichen die Organismen in ein Verzweigungsschema (ein sog. Cladogramm) bringt. Dieses stellt in evolutionstheoretischer Interpretation ein hypothetisches Abstammungsschema (ein Phylogramm) dar. (Für die nachfolgenden Ausführungen sei ein Blick auf das Cladogramm unter http://scienceblogs.com/pharyngula/upload/2011/07/bird_phylo.php sehr empfohlen!)
Bislang war Archaeopteryx an der Basis der Avialae (Vögel und verwandte Formen) platziert und damit evolutionstheoretisch als Urvogel interpretierbar. Durch den neuen Fund Xiaotingia verschieben sich jedoch die cladistischen Verwandtschaftsbeziehungen. Xiaotingia weist deutliche Ähnlichkeiten mit Anchiornis auf, der zu den Deinonychosauria gestellt wird, einer Gruppe der theropoden Dinosaurier, die die nicht zu den Vögeln gehört und auch nicht zu den Vogelvorläufern gestellt wird. Aber auch mit Archaeopteryx teilt Xiaotingia so viele gemeinsame Merkmale, dass nun nach den Regeln der Cladistik auch der Urvogel – anders als bisher – ebenfalls zu den Deinonychosauria gestellt werden muss. Die drei Gattungen Anchiornis, Xiaotingia und Archaeopteryx werden innerhalb der Gruppe der Deinonychosauria als Archaeopterygidae zusammengefasst. Die Archaeopterygidae und damit auch Archaeopteryx repräsentieren somit einen Zweig des Stammbaums, der nicht zu den Vögeln führt (vgl. Abb. http://scienceblogs.com/pharyngula/upload/2011/07/bird_phylo.php).
Für die nahe Verwandtschaft von Xiaotingia mit Archaeopteryx werden u. a. die flache Schnauze, eine ausgedehnte Region hinter der Augenhöhle, die Form des Schlüsselbeins, extrem lange mittlere und letzte Fingerknochen, die spezialisierte zweite Zehe und Merkmale des Beckens genannt. (Details bei Xu et al. 2011, 467ff.) Frühe Vögel der Avialae haben deutlich andere Schädel.2 Außerdem zeigt sich, dass viele Merkmale, die bislang als vogeltypisch galten, darunter die langen und robusten Vordergliedmaßen und der Besitz von Federn, weiter verbreitet waren und für die größere Gruppe der Paraves charakteristisch sind (Xu et al. 2011, 465). (Die Paraves umfassen die Avialae und die Deinonychosauria.)
Von Xiaotingia ist nur ein Exemplar bekannt, das insgesamt relativ gut erhalten ist. Xiaotingia hatte scharfe Zähne und Krallen am Ende der Vordergliedmaßen. Um das ganze Skelett herum sind schwache Federabdrücke erhalten, auch an den hinteren Extremitäten und in der Nähe von dessen Zehen, was auch von Anchiornis bekannt ist. Xiaotingia war also anders als Archaeopteryx vierflügelig. Vierflügelige Formen sind schon seit einigen Jahren auch aus der Gattung Microraptor bekannt (Xu et al. 2003). Leider sind die Federn zu schlecht erhalten, um irgendwelche Details an den Abdrücken erkennen zu können. Die Federn in der Nähe des Femur (Schienbein) sind mit über 5 cm Länge sehr lang.
Konsequenzen. Aus wissenschaftlicher Sicht sind die Konsequenzen aus dem neuen Fund eher gering. Verschiebungen in den Dendrogrammen aufgrund neuer Funde oder nochmaligen genaueren Untersuchungen gab es immer wieder und schon manche Arten wurden hin und her geschoben (Witmer 2011). Wenn Archaeopteryx nicht mehr an der Basis der Avialae steht, vergrößert sich die Lücke im Bereich der frühen Vögel, bemerkt P. Z. Myers auf seinem Blog (http://scienceblogs.com/pharyngula/2011/07/xiaotingia_zhengi.php). Andererseits löst sich ein Merkmalswiderspruch auf. Archaeopteryx hatte das Gebiss eines Räubers, während andere frühe Vogelfossilien Pflanzenfresser waren und in dieser Hinsicht besser mit mutmaßlichen Theropoden-Vorfahren verknüpft werden können (Witmer 2011, 459).
Die Bedeutung der Neupositionierung liegt jedoch eher darin, dass mit Archaeopteryx eine der bekanntesten fossilen Gattungen von einer solchen Umgruppierung betroffen ist und dies den Status als „Urvogel“ tangiert. Bei oberflächlicher Betrachtung könnte man meinen, dass ein evolutionäres Bindeglied gefallen ist, doch die Situation ist komplizierter. Denn Archaeopteryx stand schon lange nicht mehr alleine im Übergangsbereich von Reptilien und Vögeln. In den letzten etwa 30 Jahren wurden vor allem in China zahlreiche neue Fossilien von Vögeln und vogelähnlichen Dinosauriern entdeckt, so dass die Vielfalt der fossilen Formen an der Basis des evolutionären Stammbaums sich mittlerweile als schwer zu entwirrendes Gestrüpp darstellt. Modelle für evolutionäre Übergangsformen sind also vorhanden. Die Indizien- und Deutungslage bezüglich der Frage nach Übergangsformen hat sich seit einiger Zeit bereits deutlich verschoben. Wo die evolutionstheoretischen Probleme heute liegen, sei nachfolgend erörtert.
Witmer (2011) schreibt in seinem Kommentar, die Grenzen zwischen den verschiedenen Gruppen, die an die Basis der Vogelevolution gestellt werden, seien zunehmend verwischt worden. Auf seinem Blog (http://witmerlab.wordpress.com) behauptet er darüber hinaus: „Eine Vorhersage von Evolution ist, dass die Arten sich zunehmend ähnlich und die Unterschiede unbedeutender werden, wenn wir in der Zeit zurück gehen und uns einem gemeinsamen Vorfahren annähern.“ Doch das stimmt so nicht mit der fossilen Befundsituation überein. Witmer selber setzt fort: „Es gab in einem massiven Umfang unabhängige Evolution (Homoplasie) verschiedener ausgetüftelter Eigenschaften, was es schwierig macht, den Knoten dieses evolutionären Beginns aufzutrennen …“ Unter Homoplasien werden Konvergenzen (=Entstehung ähnlicher Strukturen von unähnlichen Vorstadien), Parallelentwicklungen und Rückentwicklungen zusammengefasst, also solche Ähnlichkeiten, die nicht auf gemeinsame Vorfahren zurückgeführt werden.
Der fossile Befund zeigt also nicht zunehmende Ähnlichkeit an der Basis des mutmaßlichen evolutionären Stammbaums, es gibt vielmehr verschiedene Mosaikformen und das erzwingt die Annahme zahlreicher Konvergenzen – diese machen ihrerseits die Taxonomie und die Zuordnung zu einzelnen Gruppen schwierig. Xu et al. (2011, 465) schreiben, dass viele basale Avialae (Gruppe, die zu den häutigen Vögeln führt) sich „beträchtlich“ von Archaeopteryx unterscheiden. Die Forscher diskutieren eine Reihe von Merkmalen, die die Archaeopterygidae (Archaeopteryx, Anchiornis und Xiaotingia) einerseits mit anderen Deinonychosauria teilen, die sie andererseits von anderen basalen Avialae-Gruppen unterscheiden (Xu et al. 2011, 468f.). Xu et al. stellen aber auch wie Witmer fest, dass es viele funktional signifikante Homoplasien gebe und dass Homoplasien weit verbreitet seien. Viele auffällige anatomische Merkmale von Xiaotingia gebe es in verschiedenen Gruppen der Paraves. Und dieses Phänomen sei auch bei anderen größeren Übergängen bekannt.3 Vor einem Jahr berichteten Choiniere et al. (2010) über einen befiederten Alvarezsauriden (Haplocheirus sollers), der trotz der Befiederung weit von den mutmaßlichen Vogelvorläufern entfernt ist; auch diese Forscher konstatieren „extreme morphologische Konvergenzen“ (vgl. Junker 2010). Es muss immer wieder darauf hingewiesen werden, dass diese Situation evolutionstheoretisch unerwartet ist und Fragen nach den Mechanismen aufwirft, die häufig zu gleichen Merkmalen hätten führen können. Xu et al. (2011, 469) weisen darauf hin, dass wegen der zahlreichen Homoplasien der neue Stammbaum nur schwach gestützt ist. Witmer (2011, 459) bemerkt, dass der nächste Fund das Bild wieder umdrehen könnte.
All dies zeigt, dass Merkmale an sich keine verlässlichen Verwandtschaftsanzeiger sein können. Je nach Gesamtbefund werden bestimmte Ähnlichkeiten als Homologien (d. h. als Belege für gemeinsame Abstammung) oder als Homoplasien gewertet; das Pendel kann hin und her schlagen. Witmer schließt seinen Kommentar damit, dass evolutionäre Ursprünge nun mal chaotische Angelegenheiten („messy affairs“) seien.
Ob nun Archaeopteryx ein Vogel war oder nicht, ist Definitionssache und auch eine Frage der Methode, wie die Merkmalsspektren der Arten dargestellt werden. Nach der cladistischen Analyse von Xu et al. befindet sich Archaeopteryx auf einem evolutionären Seitenast, der zu einer Gruppe (Deinonychosauria) gehört, die nicht zu den heutigen Vögeln leitet. Wie erwähnt, kann der nächste Fund dies schon wieder ändern. Das Merkmalsspektrum von Archaeopteryx ändert sich freilich nicht, solange keine neuen Funde von ihm gemacht werden. Und daher bleibt es dabei, dass Archaeopteryx flugtaugliche Federn, den Federn heutiger Vögel vergleichbar, und manche anderen vogeltypischen Merkmale hatte. Bevor weitreichende Schlüsse gezogen werden, sollte die monografische Bearbeitung abgewartet werden. Unklar ist auch, wie die paläobiogeographische Verteilung der Archaeopterygidae erklärt werden kann. Archaeopteryx sollte also nicht vorschnell als die „Urfeder“ abgeschrieben werden.
Und aus der Sicht der Schöpfungslehre? Zunächst muss auf eine eigentlich banale Selbstverständlichkeit hingewiesen werden: Ein Cladogramm ist nicht notwendigerweise ein Phylogramm. Man benötigt weder die Voraussetzung von Evolution, um ein Cladogramm aufzustellen, noch besteht die Notwendigkeit, ein Cladogramm als Phylogramm zu interpretieren. Cladogramme sind Ordnungsschemata, die evolutionstheoretisch interpretiert werden können. Und weiter ist das cladistische Verfahren zwar Standard, aber nicht konkurrenzlos. Wenn Homoplasien überhand nehmen, werden cladistische Ergebnisse unsicher (vgl. Anm. 3 und die von Xu et al. konstatierte schwache Stützung des neuen Cladogramms, s. o.). Cladogramme werden so konstruiert, dass möglichst wenige Homoplasien auftreten, da Homoplasien als relativ unwahrscheinlich gelten. Dies hängt mit den zugrundegelegten Vorstellungen über Evolutionsmechanismen zusammen. Könnte man Evolutionsmechanismen plausibel benennen, die Homoplasien wahrscheinlich machen, wäre dagegen dem Cladismus der Boden entzogen. In einer schöpfungsorientierten Perspektive kann man den Befund der verbreiteten Mosaikformen mit anderen Augen sehen und als Ausdruck eines Baukastensystems werten. Merkmale sind dann beliebig kombinierbar, sofern der Gesamtkomplex eine lebensfähige Art ergibt. Das Nebeneinander verschiedener Mosaikformen ist hier kein grundsätzliches Problem.
Es bleibt für die Schöpfungslehre aber – wie schon zuvor – die Frage nach den stratigraphischen Abfolgen: Warum ist die Vogelwelt im Jura und in der Kreide eine ganz andere als die im Tertiär?
Literatur
Choiniere JN, Xu X, Clark JM, Forster CA, Guo Y & Han F (2010) A Basal Alvarezsauroid Theropod from the Early Late Jurassic of Xinjiang, China. Science 327, 571-574.
Junker R (2010) Löst Haplocheirus das Zeit-Paradox der Vogelevolution? Stud. Int. J. 17, 36-38.
Witmer LM (2011) An icon knocked from its perch. Nature 475, 458-459.
Xu ZZ, Wang X, Kuang X, Zhang F & Du X (2003) Fourwinged dinosaurs from China. Nature 421, 335-340.
Xu X, You H, Du K & Han F (2011) An Archaeopteryx--like theropod from China and the origin of Avialae. Nature 475, 465-470.
Anmerkungen
1 „In other words, Archaeopteryx was no longer a bird“ (Witmer 2011, 458).
2 vgl. auch http://www.nature.com/news/2011/110727/full/news.2011.443.html
3 „This low support is partly caused by various homoplasies, many of which are functionally significant, that are widely distributed across coelurosaurian phylogeny. Xiaotingia possesses salient anatomical features also seen in different paravian taxa, further highlighting the phenomenon of widespread homoplasy. This phenomenon is also seen in some other major transitions, including the origins of major mammalian groups, and creates difficulties in recovering robust phylogenies“ (Xu et al. 2011, 467). Autor dieser News: Reinhard Junker Informationen über den Autor
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