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09.02.12  Am Anfang die Vielfalt?

Die sehr artenreiche Ameisengattung Pheidole bildet gewöhnlich zwei Arbeiterkasten aus, die unterschiedlich groß sind und in den Nestern verschiedene Aufgaben erfüllen. Bei einigen wenigen Arten gibt es darüber hinaus eine sehr große Kaste von „Supersoldatinnen“ mit extrem großen Köpfen. Bisher war angenommen worden, dass sie sich unabhängig entwickelt haben. Doch einige neue Befunde sprechen nun dafür, dass das genetische Potential für die Supersoldatinnen schon im gemeinsamen Vorläufer der Gattung Pheidole vorhanden war und auch heute noch in vielen Arten abrufbar ist. Dieser Befund passt gut zum Konzept der polyvalenten Grundtypen.

„Zeig, was in Dir steckt!“ Wer diese Aufforderung ausspricht, rechnet damit, dass bei einer Person mehr Potential vorhanden ist als aktuell sichtbar. Immer wieder zeigt sich das auch in der Tier- und Pflanzenwelt. Gut erforschte Beispiele sind Panzerung und Bauchstacheln bei Stichlingen oder Flügel bei Stabheuschrecken, die optional ausgebildet werden können (in verschiedenen Variationen oder auch gar nicht). Im Erbgut schlummern manche Möglichkeiten, die fast wie auf Knopfdruck abgerufen werden können. Im Zusammenhang mit der Debatte um Schöpfung und Evolution interessiert die Frage, woher dieses Potential kommt und ob dessen Herkunft durch naturwissenschaftliche Forschung geklärt werden kann. Nach dem Grundtypmodell der Schöpfungslehre sind die Grundtypen (die als Schöpfungseinheiten interpretiert werden können) ursprünglich polyvalent, das bedeutet unter anderem: sie sind mit verschiedenen genetischen und phänotypischen (gestaltlichen) Möglichkeiten ausgestattet, die teilweise nur bei Bedarf aktiviert und abgerufen werden können (vgl. Artikel Genetisch polyvalente Stammformen von Grundtypen). Von einem Beispiel, das diese Vorstellungen (und damit das Grundtypkonzept) unterstützt, berichten Forscher um Ehab Abouheif von der kanadischen McGill Universität (Rajakumar et al. 2012). Auch wenn diese Forscher ihre Beobachtungen und Resultate nicht im Zusammenhang mit dem Grundtypmodell diskutieren, liest sich ihr Artikel über die gelegentliche Ausbildung von „Supersoldatinnen“, einer besonderen Kaste bei verschiedenen Ameisenarten, fast wie ein Kapitel über Grundtypenbiologie und polyvalente Stammformen.

Die Forscher wollten herausfinden, wie neue Arbeiterkasten bei Ameisen entstehen. Dazu untersuchten sie Ameisen der mit über 1000 Arten sehr artenreichen und weltweit verbreiteten Gattung Pheidole. Diese Ameisen gehören zur Unterfamilie der Knotenameisen (Myrmicinae). Ihre Arbeiterkaste ist stark größendimorph, das heißt es gibt zwei Typen von unfruchtbaren Weibchen: Kleinere, 2-4 mm große Arbeiterinnen mit gewöhnlichem Körperbau – sie kümmern sich um das Nest und um das Futter – und größere Arbeiterinnen, die auch als Soldatinnen bezeichnet werden und im Vergleich zu ihrem Körper sehr große Köpfe und „Beißzangen“ (Mandibeln) besitzen. Die Soldatinnen verteidigen das Nest und verarbeiten das Futter.

Darüber hinaus sind aus den Wüsten Nordamerikas bei acht Pheidole-Arten aber auch noch sogenannte Supersoldatinnen bekannt. Sie sind mehr als doppelt so groß wie normale Soldatinnen und haben riesige Köpfe und Kiefer, mit denen sie die Eingänge zum Nest blockieren, wenn sie von Wanderameisen angegriffen werden, denen die normalen Soldatinnen nicht gewachsen sind. Andere Aufgaben erfüllen sie kaum, sie müssen sogar gefüttert werden.

Kürzlich erlebten die Forscher eine Überraschung: Auch auf Long Island entdeckten sie bei der dort ansässigen Ameisenart Pheidole morrisi Soldatinnen, die riesige Köpfe besaßen. Bei dieser Art waren Supersoldatinnen zuvor noch nie beobachtet worden. Es wurde auch nicht damit gerechnet, denn auf Long Island gibt es keine Wanderameisen. Daraufhin untersuchten sie, ob auch andere Pheidole-Arten im Labor Supersoldatinnen hervorbringen können. Und das funktionierte nicht nur bei Pheidole morrisi, sondern auch  bei zwei weiteren Arten tatsächlich: Das Supersoldatinnen-Potential kann während des Larvenstadiums aktiviert werden, wenn zum richtigen Zeitpunkt die richtige Konzentration des Juvenilhormons (bzw. eines chemischen Ersatzstoffes) und passende Nahrung verabreicht wird. Das Juvenilhormon verzögert die Umwandlung (Metamorphose) der Larve zum erwachsenen Stadium, so dass die Chitinhaut länger wachsen kann. Nun vermuten die Forscher, dass sogar alle Pheidole-Arten diese Möglichkeit besitzen, Supersoldatinnen heranwachsen zu lassen, die bei Auftreten vieler Feinde aktiviert werden kann.

Es war schon vorher bekannt, dass nicht alle der bisher bekannten acht Pheidole-Arten, die Supersoldatinnen ausbilden, näher miteinander verwandt sind. Daher war angenommen worden, dass diese Kaste zweimal unabhängig evolutionär entwickelt wurde. Aufgrund der neuen Befunde bezweifelt die Gruppe um Abouheif diese Deutung. Wenn durch Hormongabe die Super-Kaste erzeugt werden kann, müssen die genetischen Voraussetzungen dafür schon im Erbgut stecken. Die Ausbildung von Supersoldatinnen gelang auf diese Weise bei Arten aus ganz verschiedenen Positionen im Pheidole-Stammbaum. Aufgrund der weiten Verteilung dieses Potential liegt die Annahme nahe, dass es ursprünglich allen Pheidole-Arten zu eigen war. Seine Ausprägung scheint nur vom richtigen Timing und der passenden Menge Juvenilhormon und der Ernährung abzuhängen. Dass die Super-Kaste nur bei besonderem Bedarf ausgebildet wird, ist insofern verständlich, als ihre Produktion viel Energie kostet. Rajakumar et al. (2012, 81) schreiben: „Das Entwicklungspotential für die Produktion der Supersoldatinnen wurde beibehalten und war wahrscheinlich im gemeinsamen Vorfahren alle Pheidole-Arten vorhanden. Ohne das Wissen über dieses ursprüngliche Entwicklungspotential hätten wir angenommen, dass die Supersoldatinnen-Kaste neu evolviert sei.“ Wahrscheinlicher sei aber, so führen sie weiter aus, dass die Ausbildung der Supersoldatinnen-Kaste bei den meisten Arten verlorengegangen sei, während das Potential bei einigen Arten dafür erhalten blieb. Der Schlusssatz der Autoren, dass durch solche Prozesse die Evolution „neuer“ Phänotypen (im Sinne von de novo) erleichtert werde, ist durch die von ihnen berichteten Ergebnisse daher nicht begründet.

Der Vorgang der Aktivierung bzw. Reaktivierung der Supersoldatinnen ist ein Beispiel für „genetische Akkommodation" (Rajakumar et al. 2012, 81). Darunter versteht man die Ausweitung der phänotypischen Formenvielfalt aufgrund äußerer (Extrem-)Einflüsse (hier die Entstehung der Supersoldatinnen-Kaste, z. B. durch Konfrontation mit Wanderameisen) und die nachfolgende Beibehaltung des neuen (reaktivierten) Phänotyps durch Selektion der Gene, die die Häufigkeit seiner Ausprägung positiv beeinflussen (hier Überleben der Kolonie nach einem Angriff) (vgl. Artikel Evo-Devo).

Bemerkenswert ist, dass trotz des Fehlens der Supersoldatinnen bei gewöhnlich 99% der Pheidole-Arten das Potential für diese Kaste nicht im Laufe der Zeit verlorengegangen ist, sondern aktiviert werden kann. Im Allgemeinen wird nicht genutzte Erbinformation durch Verlustmutationen im Laufe der Zeit verloren gehen. Nach phylogenetischen Analysen sollen sich die Gattung Pheidole schon vor 30 bis 65 Millionen Jahren in die rund 1100 verschiedenen Arten auseinanderentwickelt haben. Warum ist das Potential für die Super-Kaste dennoch in verschiedenen Arten vorhanden? Die Forscher vermuten, dass Supersoldatinnen-Potential mitsamt seinen Genen und ontogenetischen Entwicklungswegen nicht beseitigt werden kann, weil es auch bei der Bildung der normalen Soldatinnen benötigt wird (Rajakumar et al. 2012, 82).

Abbildung

http://www.alexanderwild.com/Ants/Taxonomic-List-of-Ant-Genera/Pheidole/8708721_63zwQf#!i=630285037&k=biUdN)

Literatur

Rajakumar R, San Mauro D, Dijkstra MB, Huang MH, Wheeler DE, Hiou-Tim F, Khila A, Cournoyea M & Abouheif E (2012) Ancestral Developmental Potential Facilitates Parallel Evolution in Ants. Science 335, 79-82.

Autor dieser News: Reinhard Junker

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