23.10.12 Von der Citrat-Verwertung zur Entstehung des Auges?
Anmerkungen zu einem vielbeachteten Experiment und zur Frage der Entstehung evolutionärer Neuheiten
Ein vielbeachtetes Langzeit-Evolutions-Experiment scheint entscheidende Hinweise zu den lange gesuchten Mechanismen der evolutiven Entstehung von Innovationen zu geben. Von einem „Schlag ins Gesicht“ der Evolutionskritiker sprechen zwei Kommentatoren in der Wissenschaftszeitschrift „Nature“. Was die neuen Befunde zeigen und welche Fragen offen bleiben wird nachfolgend kommentiert.
Im Jahr 1988 begann Richard E. Lenski mit seiner Arbeitsgruppe ein bislang einzigartiges und sehr aufwändiges Langzeit-Evolutions-Experiment (LZEE) mit Escherichia coli-Bakterien. Aufgrund der kurzen Generationszeit können unter den gewählten Kulturbedingungen im Durchschnitt ca. 6,6 Generationen pro Tag erzeugt werden. Im Jahr 2010 feierten die Forscher die 50.000 Generation, die sie hintereinander gezüchtet und auf evolutive Veränderungen hin untersucht hatten. Mittlerweile sind 55.000 Generationen erreicht. Nach jeweils 500 Generationen werden Proben tiefgefroren und damit ein umfangreiches Archiv von reaktivierbaren Bakterien angelegt. Damit können bei Bedarf die Abfolge der Änderungen zurückverfolgt und Wiederholungsversuche unternommen werden.
Eine neue Funktion
Im Rahmen dieser Versuchsreihen ist eine unüberschaubar große Zahl von Mutanten aufgetreten. Im Jahr 2008 wurde darunter erstmals eine „neue“ Funktion beschrieben (Blount et al. 2008; vgl. Schilderung bei Binder 2008). Diese Mutation (Cit+) versetzte die Bakterien in die Lage, Zitronensäure (Citrat) als Kohlenstoffquelle zu nutzen – eine neue Fähigkeit, die den Bakterien zuvor fehlte. E. coli verfügte zwar bereits über einen vollständigen Zitronensäurezyklus; die notwendigen Stoffwechselprozesse für die Verwertung von Zitronensäure waren also schon vorhanden. Allerdings konnte das Bakterium Citrat aus dem Nährmedium vorher nur unter sauerstofffreien Bedingungen nutzen. In Gegenwart von Sauerstoff konnte kein Citrat aus der Umgebung in die Zelle transportiert werden. Die Fähigkeit zur Aufnahme von Zitronensäure aus dem Nährmedium trat erst nach etwa 31.500 Generationen auf, obwohl Citrat von Anfang an zur Verfügung stand. Zunächst war nicht klar, welche Änderungen zu dieser Fähigkeit geführt hatten.
Mittlerweile konnten die Forscher mit Hilfe ihres Bakterien-Archivs die zugrundeliegenden Vorgänge genauer untersuchen. Schon 2008 hatten die Autoren Hinweise darauf gehabt, dass eine oder mehrere Mutationen vorausgegangen sein müssen, bevor schließlich die Mutation zum Phänotyp Cit+ möglich war. Im LZEE mit E. coli trat zunächst nach ca. 31.500 Generationen eine Variante mit sehr schwacher Cit+-Funktion auf, die mit Cit–-Varianten konkurrierte, ohne diese jemals komplett zu verdrängen. In einem weiteren Ereignis wurde die Effektivität der Nutzung von Citrat (Cit+-Funktion) verbessert. Diese Vorgänge konnten mittlerweile durch weitere Untersuchungen erhellt werden (Blount et al. 2012).
Über den physiologischen Mechanismus, der die Cit+-Funktion ermöglicht, konnte 2008 nur spekuliert werden. Es blieb offen, ob ein „verborgenes“, durch Mutationen funktionslos gewordenes Transportprotein wieder reaktiviert worden ist (was Blount et al. [2008] aufgrund der langen Nichtbenutzung für unwahrscheinlich halten) oder ob ein funktionsfähiges Transportprotein umgebaut und für den Transport von Zitronensäure durch die Membran nutzbar gemacht wurde (diese Vorstellung favorisieren die Autoren).
Wie stellt sich die Sachlage nun dar?
Die neuen Untersuchungen (Blount et al. 2012) haben ergeben, dass sich zunächst eine genetische Veränderung ereignet haben muss (oder zwei Veränderungen), die die Entstehung der Cit+-Varianten überhaupt erst ermöglichte. Um was für eine Art von „ermöglichender“ Mutation es sich dabei handelt, ist unklar, ebenso ob sie einen Selektionsvorteil brachte und sich deshalb durchsetzen konnte oder ob sie (fast) neutral war und sich zufällig ausbreitete (Gendrift). Ein weiterer Schritt ermöglichte den Bakterienstämmen dann eine sehr geringe Verwertung von Citrat („Verwirklichungs“-Mutation). Über ihn wissen die Forscher Genaueres: Betroffen ist das Gen citT, welches ein Transportprotein kodiert, das Zitrat in die Zelle einschleust. „Ursprünglich lag citT einmal unterhalb des Genorts von citG (einem weiteren für die Zitrat-Verstoffwechselung notwendigen Gen) sowie von rnk, einem Gen mit ganz anderem Aufgabenbereich im Energiestoffwechsel. In sämtlichen Cit+-Zellen fiel Blount und seinen Kollegen nun aber ein charakteristisches Rearrangement dieser Gene ins Auge, das rnk mit citG verschmolz. Das führte nun dazu, dass die Expression von citG und citT unter die Promotorkontrolle von rnk geriet. Die Regulatorsequenz dieses Gens erlaubte daraufhin, dass beide cit-Gene nun auch in Gegenwart von Sauerstoff aktiv werden“ (Hendricksen & Rainey 2012). Es wurde also die Regulation der entsprechenden Gene geändert durch Umordnung eines Genkomplexes. Damit war bereits der entscheidende Schritt zur neuen Funktion geschafft, wenn diese auch sehr schwach ausgeprägt war und den Bakterien vermutlich keine Vorteile brachte. Die weiteren Veränderungen beinhalten dann Optimierungen. Die schwach ausgeprägte Cit+-Funktion wurde in weiteren Schritten dadurch verbessert, dass die Gene in Tandems von zwei bis neun Kopien dupliziert wurden.
Welche Schlüsse können gezogen werden?
Evolution ja … Die immense Zahl an Generationen in den vielen parallel gezüchteten Linien von Bakterien ermöglichte das Studium mehrerer hintereinander erfolgter Mutationen. Keine Frage, in diesem Sinne findet Evolution statt, es treten Änderungen auf, die für die Bakterien unter bestimmten Bedingungen nützlich sind. Mutationen können nachweislich auch zu Umorganisierung von Genen führen. Es ist also möglich, dass die Regulation von Genen geändert wird (was keine neue Erkenntnis ist) und es ist ebenfalls möglich, dass sich mehrere Mutationen sukzessive ansammeln, die in der Summe zu einem veränderten Phänotyp führen. Die Arbeiten in Lenskis Labor dokumentieren solche graduellen Änderungen in mehreren aufeinander folgenden Mutationsschritten. Nach gegenwärtigem Kenntnisstand brachte erst der dritte Schritt dem Organismus überhaupt einen Vorteil (die ersten Schritte waren vermutlich neutral, was aber nicht sicher ist, s. u.) und führte zu einer sprunghaften Änderung des Phänotyps (Nutzung von Citrat als Nährstoff). Vorgänge dieser Art waren von manchen Evolutionskritikern bisher bezweifelt worden.1 Die nachgewiesene Anhäufung mehrerer Mutationen ist ein sehr interessanter Aspekt unter den Ergebnissen von Lenskis Arbeitsgruppe. Derzeit ist im Blick auf die erste „ermöglichenden“ Mutation allerdings wenig bekannt, ebenso ist die Art und der Grund ihrer Fixierung in den Populationen unklar.
… aber von welcher Qualität? In der entsprechenden Nature-Ausgabe kommentieren Hendricksen & Rainey (2012) die neuen Ergebnisse des LZEE. Dabei werfen sie Eingangs die Frage auf, welche kleinen Schritte einem Sprung wie etwa der Erfindung des Konstruktionsprinzips „Auge“ vorausgehen. Damit wird nahegelegt, dass die beiden Probleme – Aktivierung des bereits vorhandenen Citratimports unter veränderten Bedingungen und die Entstehung des Auges – vergleichbar wären. Davon kann aber nicht im Entferntesten die Rede sein. Später sprechen sie von der Entstehung „völlig anderer Phänotypen“, was eine gewaltige Übertreibung darstellt. Lenskis Befunde beleuchten Vorgänge im Zusammenhang mit der Fähigkeit von Organismen, sich veränderten Bedingungen anzupassen. Aber in keiner Weise geben sie einen Hinweis darauf, wie zum Beispiel ein Stoffwechselweg de novo entsteht. Experimentell nachgewiesen sind Vorgänge der Änderung von Regulationsprozessen und in sehr bescheidenem Maße auch die Rekrutierung vorhandener Gene in einem neuen Zusammenhang (vgl. auch Rebeiz et al. 2011). Die nachgewiesenen Veränderungen bleiben jedoch in einem engen Rahmen und jede weitergehende Behauptung erfordert eine eigene Begründung. Der von Hendricksen & Rainey (2012) sogar beschworene „Kampf ‚Wissenschaft gegen Dogma‘“ ist hier ein viel zu starkes und nicht gerechtfertigtes Bild, es bedient nur ein verbreitetes Klischee. Es geht doch nur um die Frage, welche Schlussfolgerungen die empirischen Befunde erlauben und welche nicht.
Was ist eine Neuheit? Auffällig nicht nur bei der Kommentierung ist die Unklarheit, was unter einer „evolutionären Neuheit“ verstanden wird. Der Begriff (oder sinngemäß ähnliche Begriffe wie „key innovation“ – Schlüsselinnovation) wird oft undifferenziert verwendet, d. h. ohne ihn näher zu bestimmen.2 Wenn Änderungen, die keinerlei neue Stoffwechselmoleküle oder gar neue Stoffwechselkaskaden erfordern, zu etwas „völlig Neuem“ hochstilisiert werden, dann erscheint das unangemessen. Von der Änderung von Regulationen, die zum Ausnutzen eines bereits vorhandenen Stoffwechselwegs führen, auf weitergehende und andersartige Änderungen zu schließen, ist nicht zulässig. Hier wird auch außer Acht gelassen, dass es viele verschiedene Grade von Unterschieden biologischer Strukturen, Stoffwechselkomplexen, Signalkaskaden oder molekularen Maschinen gibt. Daher muss jeder Einzelfall gesondert auf seine Aussagekraft im Hinblick auf das evolutionäre Potential natürlicher Mechanismen beurteilt werden.
Die Experimente der Arbeitsgruppe von Lenksi sind spannend und lehrreich, und man kann sicher weitere interessante Ergebnisse erwarten. Eine an den Befunden orientierte Deutung sollte aber die Grenzen des Begründbaren respektieren. Wenn diese Ergebnisse in verschiedenen Ursprungsmodellen gedeutet werden, sollte dies nüchtern und differenziert erfolgen, die dabei vorgenommenen Grenzüberschreitungen sollten dabei deutlich markiert werden.
Anmerkungen
1 Michael Behe, durch sein Buch „Darwin‘s Black Box“ bekannter Evolutionskritiker, hat in seinem Nachfolgewerk „The Edge of Evolution“ (Behe 2007) solche Vorgänge am Beispiel der Entstehung von Frostschutzproteinen dagegen ausdrücklich als plausibel anerkannt.
2 Blount et al. (2012, 513) definieren im Anschluss an Ernst Mayr „evolutionary novelties“ als „qualitatively new traits that open up ecological opportunities and thereby promote diversification“. Was ein „qualitativ neues Merkmal“ ist, müsste nun aber genauer beschrieben werden.
Literatur
Behe M (2007) The Edge of Evolution. The search for the limits of Darwinism. New York.
Binder H (2008) Langzeit-Evolutionsexperiment mit Escherichia coli. Empirischer Befund für neue Funktion durch Mutation? Stud. Int. J. 15, 96-98.
Blount ZD, Borland CZ & Lenski RE (2008) Historical contingency and the evolution of a key innovation in an experimental population of Escherichia coli. Proc. Natl. Acad. Sci. USA 105, 7899-7906.
Blount ZD, Barrick JE, Davidson CJ & Lenski RE (2012) Genomic analysis of a key innovation in an experimental Escherichia coli population. Nature 489, 513-518.
Hendrickson H & Rainey PB (2012) Evolution: How the unicorn got its horn. Nature 489, 504-505. Deutsche Übersetzung unter http://www.spektrum.de/alias/evolution/wie-das-einhorn-zu-seinem-horn-kam/1166511
Rebeiz M, Jikomes N, Kassner VA & Carroll SB (2011) Evolutionary origin of a novel gene expression pattern through co-option of the latent activities of existing regulatory sequences. Proc. Natl. Scad. Sci. 108, 10036-10043.
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