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18.12.12 100 Jahre Piltdown-Mensch
Vor 100 Jahren wurde der Piltdown-Mensch entdeckt, eine der berühmtesten Fälschungen der Wissenschaftsgeschichte, die erst 41 Jahre später entlarvt wurde. Die Hintergründe der Fälschung sind noch immer nicht vollständig aufgeklärt. Unabhängig davon sind die Erkenntnisse, die dieser Fall über die Rolle des Wissenschaftlers in Wissenschaftsbetrieb bringt, nachdenkenswert.
Am 18. Dezember 1912 wurde der wissenschaftlichen Öffentlichkeit ein spektakulärer Fossilfund eines Vormenschen vorgestellt. Arthur Smith Woodward, ein britischer Paläontologe, und Charles Dawson, ein Amateur-Altertumsforscher hatten in einer Kiesgrube bei dem Dorf Piltdown in Südostengland einen fossilen Schädel entdeckt, der ein menschliches Schädeldach und einen affenartigen Unterkiefer besaß. Damals waren noch relativ wenige Funde fossiler Menschen und fossiler Menschenaffen bekannt und der „Piltdown-Mensch“ unterstützte die damals vorherrschende Auffassung, dass sich in der Evolution des Menschen zuerst das Gehirn vergrößert habe, bevor der aufrechte Gang entstand. Der Piltdown-Mensch schien ein passendes Bindeglied zwischen Menschenaffen und Menschen zu sein. Zu Ehren des Entdeckers erhielt die neue Art den wissenschaftlichen Namen Eoanthropus dawsoni – „Morgenrötemensch“.
Über den Piltdown-Menschen wurden hunderte von Publikationen veröffentlicht und er beeinflusste die Einschätzung der Bedeutung anderer Funde, die später gemacht wurden (vor allem der Gattung Australopithecus, deren erste Art 1924 entdeckt wurde). Eine Minderheit der Experten bezweifelte allerdings, dass Schädeldach und Unterkiefer wirklich zusammengehören. Schließlich wurde der Fund im Jahr 1953 aufgrund chemischer Analysen als Fälschung entlarvt. Der Schädel war aus einem Schädeldach eines Menschen und einem Unterkiefer eines Orang Utan zusammengesetzt und die Knochen waren so bearbeitet worden, dass nicht sofort auffallen konnte, dass sie von verschiedenen Schädeln stammen. Außerdem wurden nach der Entlarvung als Fälschung Spuren der mechanischen Bearbeitung entdeckt. Diese wären von Anfang an erkennbar gewesen (so Gould [1989] in einem seiner vielen lesenswerten Essays); man war aber offenbar nicht darauf gefasst – das ist das eigentlich Interessante an der Geschichte (s. u.).
Erstaunlicherweise sind die Hintergründe der Fälschung nach wie vor nicht aufgeklärt, berichtet Chris Stringer in der neuesten Ausgabe von Nature (Stringer 2012; vgl. Gould 1989; 1991). Er gehört zu einem Team von Forschern, die herausfinden wollen, wie die Fälschung durchgeführt wurde, wer sie durchführte und welche Motivation dahinterstand. Gould (1989) schildert einige Hypothesen über den oder die Täter. Es ist demnach durchaus möglich, dass es sich um einen Scherz und nicht um eine böswillige Fälschung handelt und dass dieser Scherz durch besondere Umstände nicht mehr aufgeklärt wurde.
Doch wer immer die Piltdown-Fälschung zu verantworten hat und was auch immer seine Motive waren, ist der Fall – so Stringer –, eine Warnung an Wissenschaftler, eine kritische Haltung zu bewahren, aber auch ein Beispiel für die Leistungsfähigkeit der naturwissenschaftlichen Methode (es waren chemische Untersuchungen, die zeigten, dass Schädel und Unterkiefer sicher nicht zusammenpassen). Wenn etwas zu gut zu sein scheint, um wahr zu sein, dann ist es vielleicht auch so, merkt Stringer (2012, 179) an.
Doch in den Jahren nach 1912 hielten sich die meisten mit der Sache befassten Wissenschaftler nicht an solche Warnungen. Gould (1989, 120) nennt vier Arten von Gründen, dass eine „so unausgegorene Sache von den größten englischen Paläontologen ohne Vorbehalt akzeptiert wurde. Alle vier widersprechen dem üblichen Glauben, dass die wissenschaftliche Praxis es mit ‚harten‘, grundlegenden Fakten zu tun habe …“ (Hervorhebung nicht im Original). Die vier Gründe, die Gould nennt, sind: 1. „Die Gründung großer Hoffnungen auf zweifelhafte Beweismittel“, 2. „Verringerung einer Abweichung von der Norm durch ihre Anpassung an kulturelle Vorurteile“ (was dazu führt, dass wahrgenommen wird, was man erwartet, und das Unerwartete übersieht), 3. „Verringerung der Abweichungen von der Norm durch die Anpassung von Tatsachen an Erwartungen“ (man sieht Dinge, die es gar nicht gibt, s. u.), 4. „Schutz vor Entdeckung von Seiten der Praktiker“. Gould (1989, 120) stellt fest, dass diese Gründe unter Beweis stellten, „daß die Wissenschaft eine durchaus menschliche Tätigkeit ist, welche durch Hoffnungen, kulturelle Vorurteile und das Streben nach Ruhm motiviert wird und dennoch auf ihren Irrwegen zu einem besseren Verständnis der Natur gelangt.“ Die naturwissenschaftlichen Daten erreichen uns „stets durch die starken Filter unserer Kultur, ihrer Hoffnungen und Erwartungen“ (Gould 1989, 122). Obwohl das Schädeldach „bemerkenswert modern“ war, entdeckten Wissenschaftler daran eine Reihe von „definitiv affenartigen Merkmalen“ (vgl. den 3. Punkt oben)!
Nicht gerechtfertigt wäre es, den Fall Piltdown als Beispiel für ein verbreitetes Vorkommen von Fälschungen in der Wissenschaft zu werten; dafür gibt es jedenfalls keine Beweise. Es sind mittlerweile sehr viele fossile Funde von Menschen und Menschenaffen gemacht worden, die als Grundlage für die Einschätzung von Pro und Contra einer Evolution des Menschen aus dem Tierreich dienen können. Gerade Funde und Untersuchungen der jüngeren Zeit lassen eine deutliche Kluft zwischen fossilen Menschenaffen und Menschen erkennen (s. z. B. Brandt 2012; Hartwig-Scherer 2011 und die in diesen Artikeln verarbeitete Originalliteratur).
Literatur
Brandt (2012) „Homo“ habilis war kein Mensch. Kluft zwischen fossilen Menschen und Menschenaffen größer geworden. Stud. Int. J. 19, 4-11.
Gould SJ (1989) Ein Wiedersehen mit Piltdown. In: Der Daumen des Panda. Frankfurt, S. 112-128. (amerikan. Original 1980)
Gould SJ (1991) Die Piltdown-Verschwörung. In: Wie das Zebra zu seinen Streifen kam. Frankfurt, S. 199-224.
Hartwig-Scherer S (2011) Ardipithecus – ein Astgänger sägt am Lehrbuchwissen. Stud. Int. J. 18, 68-77.
Stringer C (2012) The 100-year mystery of Piltdown Man. Nature 492, 177-179. Autor dieser News: Reinhard Junker Informationen über den Autor
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