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Archaeopteryx – Gleitflieger und Bindeglied?
 
 

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29.01.13  Archaeopteryx – Gleitflieger und Bindeglied?

Eine neue Analyse des Federkleids des berühmten „Urvogels“ Archaeopteryx und des befiederten Dinosauriers Anchiornis weist bei diesen beiden Gattungen eine bisher unerkannte und überraschende Anordnung von mehreren Lagen dünner Federn auf. Die Forscher schließen daraus auf eine eingeschränkte Flugfähigkeit bei Archaeopteryx, während Anchiornis flugunfähig gewesen sein dürfte. Diese Befunde eigenen sich jedoch aus verschiedenen Gründen nicht als Indizien dafür, dass es sich um Übergangs-Merkmalsausprägungen handelt. Das gesamte Merkmalsspektrum lässt sich besser verstehen, wenn man die beiden Gattungen als spezialisierte Formen betrachtet. Aufgrund der nicht sicher bestimmbaren Struktur-Funktions-Beziehungen müssen weitergehende Schlussfolgerungen unsicher bleiben.

Man könnte meinen, dass über Archaeopteryx, den berühmten Urvogel aus dem Oberjura bereits alles gesagt ist. Schließlich konnte er 150 Jahre lang untersucht werden und es erschienen zahllose Artikel über diesen „komischen Vogel“. Dennoch konnte ein Forscherteam um Nicholas R. Longrich von der Yale University New Haven (USA) kürzlich neue überraschende Befunden der Öffentlichkeit vorstellen (Longrich et al. 2012). Bisher war angenommen worden, dass das Federkleid von Archaeopteryx ähnlich angeordnet war wie das heutiger Vögel. Eine erneute genaue Analyse der Lage der Federn zeigte jedoch, dass die bisherige Rekonstruktion des Federkleids teilweise auf einem Deutungsfehler der fossilen Federabdrücke beruhte. Es zeigte sich, dass Archaeopteryx und der ebenfalls untersuchte befiederte Dinosaurier Anchiornis huxleyi mehrere Lagen von dünnen, stark überlappenden Federn besitzen und nicht wie moderne und fast alle fossil bekannten Vögel nur zwei Lagen, die sich nur teilweise überlappen. Heutige Vögel (Neornithes) besitzen über den langen, asymmetrischen Flugfedern kurze Deckfedern. Diese gestaffelte Struktur macht es den Vögeln möglich, „die Schwungfedern gezielt auseinander zu spreizen, um bei langsamem Flug mehr Auftrieb zu erzeugen. Zudem können die heutigen Vögel ihre Schwungfedern schräg stellen, sodass beim Aufwärtsschwingen der Flügel Lücken entstehen. Dadurch kann Luft hindurchfließen, und der Kraftaufwand vor allem beim flatternden Langsamflug reduziert sich“ (http://www.zeit.de/wissen/2012-11/archaeopteryx-fliegen-federn-gleiten).

Aus ihren Befunden schließen Longrich und Mitarbeiter, dass aufgrund der schlanken Federschäfte von Archaeopteryx und Anchiornis zwar die einzelnen Federn schwach waren; ihre Zusammenlagerung zu mehreren Lagen aber eine dicke, robuste Tragfläche ermöglicht habe. Allerdings dürfte weder das Spreizen noch das Schrägstellen der Schwungfedern bei den Flügeln der  beiden Gattungen möglich gewesen sein. Die Folgen waren sehr wahrscheinlich ein erschwerter Start vom Boden aus und Einschränkungen beim langsamen Flug. Die Vielfalt der Funktionen heutiger Flügel dürfte also gefehlt haben, so dass die Flugfähigkeit insgesamt eingeschränkt gewesen sein muss. Möglicherweise konnte Archaeopteryx sich nur gleitend durch die Lüfte bewegen. Aus evolutionstheoretischer Sicht würde das dafür sprechen, dass die ersten gefiederten Dinosaurier und Vögel von Bäumen aus durch die Luft glitten (Arborealtheorie), während der Flugerwerb durch schnelles Laufen vom Boden aus nicht in Frage käme (Cursorialtheorie).

Bei Anchiornis ist die Situation ähnlich wie bei Archaeopteryx, kann aber insofern als „primitiver“ gewertet werden, als diese Gattung einfache, bandartige Federn besaß, und zwar in großer Zahl und dichter Überlappung. Eine ähnliche Situation sei unter den heutigen Vögeln nur bei Pinguinen bekannt, wird Longrich in Pressemeldung zitiert. Bei Anchiornis war schon früher angenommen worden, dass er flugunfähig war, was allerdings einige Fragen aufwirft (s. u.).

Weitere Untersuchungen. Schon vor einigen Jahren war eine Analyse der Federschäfte der Handschwingen von Archaeopteryx veröffentlicht worden, wonach – verglichen mit heute lebenden Vogelarten – die Schäfte deutlich zu schwach für einen kontinuierlichen Ruderflug waren (Nudds & Dyke 2010a), obwohl die Länge der Handfedern der Größe bei vergleichbar großen heute lebenden Vögeln entspricht. Die Forscher schließen daraus, dass die untersuchten fossilen Vögel nur kurze Strecken gleiten, aber nicht aktiv fliegen konnten. Sonderbar ist aber, dass der Bau der Flügel im Ganzen nicht zum längeren Gleiten passt (Nudds & Dyke 2010a, 889), obwohl weitere anatomische Befunde (z. B. Anatomie des Schultergürtels, Federinnervation) bei Archaeopteryx dafür sprechen. An dieser Schlussfolgerung wurde kritisiert, dass Nudds & Dyke (2010a) falsche Körpermassen zugrundegelegt hätten, und dass nicht berücksichtigt worden sei, dass viele Merkmale von Archaeopteryx für die Fähigkeit zum aktiven Flug sprechen (Paul 2010; vgl. auch die Kritik von Longrich et al. 2012, 2264, aber auch die Antwort von Nudds & Dyke [2012b]). Anfang 2012 wurde dann eine Untersuchung veröffentlicht, wonach die Federn von Archaeopteryx wie die Federn moderner Vögel Melanosomen (Strukturen in farbstoffproduzierenden Zellen) besaßen, die zur Festigkeit und Haltbarkeit der Federn beitragen (Carney et al. 2004), was von den Forschern als weiteres Indiz dafür gewertet wurde, dass der Urvogel aktiv fliegen konnte. Carney et al. (2012) zeigten außerdem, dass die Struktur der Federn mit der von heutigen Vögeln identisch war.

Das Problem der fehlenden Analogie. Offenbar ergeben die Merkmale von Archaeopteryx in Bezug auf seine Flugfähigkeit also kein einheitliches Bild. Woran liegt das? Es ist gut möglich, dass die Struktur-Funktions-Beziehungen nicht genügend aufgeklärt sind und vielleicht sogar im Dunklen blieben müssen, weil wir unter den heutigen Arten keine Analogie für das gesamte Merkmalsspektrum haben. Dieser Umstand sollte vor vorschnellen evolutionären Interpretationen warnen, bei denen mit „Primitivität“ argumentiert wird. So könnte man zwar auf den ersten Blick Anchiornis und Archaeopteryx als Übergangsformen interpretieren, insbesondere wenn man einzelne Merkmale wie den Aufbau des Federkleids zugrundelegt. Dem stehen aber zwei Probleme entgegen.

Die erste Schwierigkeit ist das bereits erwähnte Fehlen eines heute lebenden Vorbilds für die Merkmalskombination von Archaeopteryx und die scheinbare (?) Widersprüchlichkeit der Daten, insbesondere bei Anchiornis. Die Schädelanatomie und die davon abgeleiteten neurologischen Fähigkeiten und andere oben bereits erwähnte Merkmale sprechen für die Fähigkeit zum aktiven Flug (Alonso et al. 2004), während Federstruktur und Art des Federkleids dieser Deutung entgegenstehen (s. o.). Eine Einschätzung der Lebensweise und Ökologie aufgrund des gesamten Merkmalsmosaiks ist daher unsicher. Von dieser Einschätzung hängt aber auch eine evolutionstheoretische Interpretation ab, die daher ebenfalls unsicher bleiben muss. Die ungewöhnliche Merkmalskombination deutet darauf hin, dass die beiden Gattungen spezialisierte Formen mit im Einzelnen nicht sicher rekonstruierbarer Lebensweise sind.

Offen bleiben auch die Fragen nach Selektionsdrücken und Umbaumechanismen. Wenn dünne Federn nur im Verband eine gewisse Flugfähigkeit (inklusive Gleitflug) ermöglichen, müssen sie auch im Verband vorliegen, damit sie einen Selektionswert im Hinblick darauf haben. Zwar wird angenommen, dass Federn zunächst andere Funktionen wie Wärmeregulation oder als Signalgeber hatten, aber eine selektionsgesteuerte Veränderung auf diese Funktionen hin steht teilweise im Widerspruch zur Selektion auf Flugfähigkeit und würde eine Veränderung in Richtung auf Flugtauglichkeit eher verhindern.

Erst recht problematisch bezüglich des Verständnisses der Lebensweise ist Anchiornis. (Vergleiche dazu Vierflügelige Vögel am Anfang?) Diese Gattung, von der nahezu vollständig erhaltene Fossilfunde bekannt sind, hatte sehr lange Unterschenkel, was auf eine laufende Lebensweise hinweist; dazu passen aber das lange und umfassende Federkleid und die Befiederung der Beine nicht, da diese beim Laufen eher hinderlich wären. Federn können eine Vielfalt verschiedener Funktionen ausüben (Stettenheim 2000). Wozu also hatte diese Gattung ein ausgebildetes Federkleid mit Konturfedern an Arm- und Handschwingen wie bei modernen Vögeln und war dennoch möglicherweise flugunfähig? (Hu et al. 2009) Der Bau der Federn und des Federkleides als Ganzes sowie der lange Steuerschwanz sprechen am ehesten für eine gemischte Boden-Baum-Lebensweise als Gleitflieger. Weitere Federmerkmale könnten Balz- und Territorialfunktion gehabt haben. Ein ausdauernder Läufer kann Anchiornis nicht gewesen sein. Es ist fraglich, ob diese ungewöhnliche Merkmalskombination eine weitere Evolution in Richtung Vögel überhaupt gefördert haben kann.

Handelt es sich vielleicht um eine Rückbildung, wie das auch bei einigen kreidezeitlichen Formen vermutet wird? Das aber wäre insofern evolutionstheoretisch problematisch, als Anchiornis auf ca. 160 Millionen Jahre und damit ca. 10 Millionen Jahre älter als Archaeopteryx datiert wird. Denn dann kämen ausgerechnet Formen mit rückgebildeten Federn in der stratigraphischen Abfolge unter den eindeutig befiederten Formen als erste, was eine evolutionäre Abfolge auf den Kopf stellen würde. Darauf deuten möglicherweise auch phylogenetische Analysen hin, wie im Folgenden dargestellt wird.

Vorläufer oder Rückbildung? Longrich et al. (2012) diskutieren eine zweite Schwierigkeit: Die phylogenetischen Positionen von Archaeopteryx und Anchiornis sind unsicher. Nach gegenwärtig gut begründeter, wenn auch unsicherer Deutung sind beide Gattungen am nächsten mit den Deinonychosauriden verwandt und befinden sich daher nicht in der Linie, die zu den Vögeln führt (vgl. Xu et al. 2011 und Fällt eine Ikone vom Sockel?). Sollte diese Position zutreffen, wären die langen, asymmetrischen Schwungfedern bei Archaeopteryx einerseits und bei modernen Vögeln andererseits konvergent entstanden (also zweimal unabhängig). Oder die kurzen symmetrischen Schwungfedern von Anchiornis sind abgeleitet (d. h. somit rückgebildet), mithin keine Vorläufer-Ausprägung. Es könnte aber auch das mehrlagige Feder-Arrangement für den Archaeopteryx-Deinonychosaurier-Zweig abgeleitet und nicht primitiv sein. Zudem hat der Dromaeosauride Microraptor gui lange, asymmetrische Handschwingen wie Archaeopteryx und wie die heute lebenden Neornithes (Deckfedern sind bei Microraptor gui unbekannt). Microraptor könnte die fortschrittliche Federmorphologie unabhängig erworben haben oder die Situation bei Anchiornis sich erneut als Rückbildung herausstellen (Longrich et al. 2012, 2264). Auf der Basis des gegenwärtigen Kenntnisstandes kann unter diesen Alternativen nicht die zutreffende bestimmt werden. Sie sind aber allesamt evolutionstheoretisch nicht unproblematisch.

Alternative? Aus den genannten Gründen bietet sich ein alternativer Ansatz an: Die Vielfalt von Formen hängt mit einer hohen Diversität von Lebensräumen zusammen, ohne eine phylogenetische Bedeutung zu haben. Die Lebensräume sind uns teilweise unbekannt, was das Verständnis der teilweise widersprüchlich erscheinenden Merkmalskonstellationen (s. o.) der jurassischen und unterkretazischen Formen aus dem mutmaßlichen „Dinosaurier-Vogel-Übergangsfeld“ erschwert. Die Formenvielfalt erfordert jetzt bereits ein erhebliches Ausmaß an Konvergenzen und/oder Reversionen (mit Parallelentwicklungen als „Homoplasien“ begrifflich zusammengefasst). So müssen die Gattungen mit befiederten Vorder- und Hinterbeinen (Anchiornis, der Dromaeosauride Microraptor und die zu den Avialae gerechnete Gattung Pedopenna) verschiedenen Linien zugeordnet werden. Evolutionäre Mechanismen, die dieses gehäufte Auftreten von Homoplasien durch konkrete Szenarien plausibel machen könnten, sind bislang nicht beschrieben (vgl. Braun 2012; Junker 2003).

Es gibt Prüfmöglichkeiten für evolutionäre und ökologische Deutungen: Führen weitere Funde zu noch komplexeren Verwandtschaftsbeziehungen und einer weiteren Vernetzung von Merkmalsübereinstimmungen oder kristallisieren sich zunehmend stammesgeschichtliche Linien heraus? Und, sollte ersteres der Fall sein: Können evolutionäre Mechanismen nachgewiesen werden, die zu widersprüchlichen Merkmalsverteilungen führen?

Literatur

Alonso DP, Milner AC, Ketcham RA, Cookson JM & Rowe TM (2004) The avian nature of the brain and inner ear of Archaeopteryx. Nature 430, 666-669.

Braun HB (2012) Warten auf einen neuen Einstein. Stud. Int. J. 19, 12-19.

Carney RM, Vinther J, Shawkey MD, D’Alba L & Ackermann J (2012) New evidence on the colour and nature of the isolated Archaeopteryx feather. Nature Comm. 3, Art.-No. 637, doi:10.1038/ncomms1642

Hu D, Hou L, Zhang L & Xu X (2009) A pre-Archaeopteryx troodontid theropod from China with long feathers on the metatarsus. Nature 461, 460-463.

Junker R (2003) Baum, Baukasten, Netzwerk. Ist die evolutionäre Systematik zirkelschlüssig? Stud. Int. J. 10, 3-11.

Longrich NR, Vinther J, Meng Q, Li Q & Russell AP (2012) Primitive Wing Feather Arrangement in Archaeopteryx lithographica and Anchiornis huxleyi. Curr. Biol. 22, 2262-2267.

Nudds RL & Dyke GJ (2010a) Narrow Primary Feather Rachises in Confuciusornis and Archaeopteryx Suggest Poor Flight Ability. Science 328, 887-889.

Nudds RL & Dyke GJ (2010b) Primary Feather Rachises in Confuciusornis and Archaeopteryx Suggest Poor Flight Ability”. Science 330, 320d.

Paul GS (2010) Comment on “Narrow Primary Feather Rachises in Confuciusornis and Archaeopteryx Suggest Poor Flight Ability”. Science 330, 320b.

Stettenheim PR (2000) The integumentary morphology of modern birds; Am. Zool. 40, 461-477.

Xu X, You H, Du K & Han F (2011) An Archaeopteryx-like theropod from China and the origin of Avialae. Nature 475, 465-470.

Autor dieser News: Reinhard Junker

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