23.10.13 Molekulare Konvergenzen in unerwartetem Ausmaß
Dass ähnliche Strukturen bei Lebewesen unabhängig (konvergent) entstehen können, ist lange bekannt und die Beispiele dafür nehmen rasant zu, so dass es immer problematischer wird, anhand von Bauplanähnlichkeiten stammesgeschichtliche Beziehungen zu ermitteln. Die Ergebnisse einer groß angelegten Studie legen nahe, dass die Konvergenzen auch im molekularen Bereich erheblich sein können.
Man hat sich daran gewöhnt: Viele ähnliche morphologische (=gestaltliche) Merkmale oder Fähigkeiten nicht näher verwandter Organismen sind mehrfach unabhängig entstanden. Dieses Phänomen wird als Konvergenz bezeichnet. Eigentlich gelten Bauplanähnlichkeiten als Hinweise auf gemeinsame Abstammung (man spricht dann Homologien), aber es gibt so viele Ausnahmen, dass strukturell homologe Ähnlichkeiten nicht mehr ohne weiteres als Belege für gemeinsame Abstammung gewertet werden können (viele Beispiele z. B. unter http://www.thegreatstory.org/convergence.pdf und www.mapoflife.org; vgl. Braun 2012)
Durch die taxonomische (=die Ordnung der Lebewesen aufstellende) Forschung in der Biologie sind viele vormals als Homologien interpretierte Ähnlichkeiten durch Gewinnung neuer Daten zu Konvergenzen „mutiert“. Die Daten, die zu Neubewertungen führten, stammen oft (aber nicht nur) aus der Molekularbiologie. Sequenzvergleiche von Proteinen und Genen und neuerdings ganzer Genome (=komplettes Erbgut eines Individuums) ergaben in zahllosen Fällen Ähnlichkeitsbeziehungen, die sich deutlich von den Merkmalsmustern unterscheiden, die auf morphologischen Merkmalen beruhen. Heute weiß man, dass es verbreitet Konflikte „Morphologie versus Moleküle“ gibt. Da in Konfliktfällen den molekularen Daten in der Regel größeres Gewicht eingeräumt wird, müssen die widersprechenden morphologischen Merkmale konvergent entstanden sein.
Mittlerweile hat sich herausgestellt, dass Konvergenzen auch im molekularen Bereich in beträchtlichem Ausmaß vorkommen. So sind beispielsweise die Aminosäuresequenzen des Proteins Prestin, das beim Hörvorgang beteiligt ist und bei der Echoortung von Fledermäusen und Walartigen besondere Bedeutung hat1, bei diesen beiden Gruppen nahezu identisch. Wale und Fledermäuse erscheinen in einem auf Prestin-Daten basierenden Dendrogramm (Ähnlichkeitsbaum) daher als eine gemeinsame Gruppe2, obwohl beide Gruppen unter den Säugetieren sonst überhaupt nicht näher verwandt sind (Li et al. 2010; Liu et al. 2010). Nach den DNA-Sequenzdaten des Prestin-Gens gruppieren sich die Wale und Fledermäuse dagegen weitgehend gemäß dem ‚üblichen’ Arten-Stammbaum. Innerhalb der Fledermäuse passen auch die Nukleotid-Sequenzdaten nicht zu den sonst anerkannten Verwandtschaftsbeziehungen.
In einer groß angelegten Untersuchung ist eine Arbeitsgruppe um den Evolutionsbiologen Stephen Rossiter (Queen Mary, University of London) der Frage nachgegangen, ob weitere molekulare Konvergenzen bei Fledermäusen und Walen vorliegen (Parker et al. 2013). Beide Gruppen haben unter den Säugetieren nicht viel gemeinsam, mit einer Ausnahme: Sie haben anders als alle anderen Säuger ein ausgefeiltes Echoortungssystem, das mit ausgestoßenen Ultraschalllauten arbeitet und viele Gemeinsamkeiten aufweist.3 In der Studie der Arbeitsgruppe von Rossiter wurden tatsächlich weitere molekulare Konvergenzen nachgewiesen – zur Überraschung der Wissenschaftler in einem enormen Ausmaß. Knapp 200 Gene weisen konvergente Gemeinsamkeiten bei Walen und Fledermäusen auf, von denen viele mit der Echoortung direkt oder indirekt in Verbindung stehen – die Forscher hatten allenfalls ein Dutzend erwartet. Einige der konvergent veränderten Gene stehen im Zusammenhang mit dem Sehsinn; bei einer Reihe von ihnen ist die Funktion unbekannt oder die Beziehung zur Echoortung unklar.
Die Wissenschaftler nutzten die Genomdaten von sechs nicht näher verwandten Fledermäusen, von denen zwei keine Echoortung betreiben, außerdem vom Großen Tümmler und von weiteren Säugetierarten. Daraus ermittelten sie etwa 2300 Gene, die in allen diesen Arten in einfacher Ausführung (single copy) vorkommen, und verglichen diese untereinander. Auf diese Weise gelangten sie zum genannten Ergebnis von knapp 200 Genen, die unabhängig voneinander in derselben Weise (konvergent) verändert waren.
Dieses enorme Ausmaß konvergenter Veränderungen stößt auf allgemeine Überraschung. Zuvor war aus evolutionstheoretischer Sicht erwartet worden, dass die molekularen Grundlagen der Echoortungssysteme der beiden so verschiedenen Säugergruppen ganz verschieden sein müssten, da Mutationen als „Rohmaterial“ für evolutionäre Neuheiten richtungslos erfolgen. Für eine gleichsinnige Änderung auf breiter Front können keine plausiblen Ursachen angegeben werden. Gewöhnlich wird bei konvergenter Ähnlichkeit auf gleichartige Selektionsdrücke als Ursache verwiesen, doch zum einen handelt es sich dabei generell um eine notwendige, nicht aber hinreichende Voraussetzung für gleichartige Veränderungen. Hier kommt zum anderen das schiere Ausmaß gleichsinniger Abwandlungen hinzu. Joe Parker, Erstautor der Veröffentlichung der erstaunlichen Ergebnisse, kommentiert: „Wir wissen, dass natürliche Auslese eine wirkungsvolle Triebfeder der Evolution von Gensequenzen ist, doch der Nachweis von so vielen Beispielen, wo sie nahezu identische Resultate bei den Gensequenzen bei Tieren ohne jede Verwandtschaft verursacht, ist erstaunlich.“
Die Tatsache, dass molekulare Konvergenzen verbreitet sein können, bringt ein Problem mit sich, das von den morphologischen Konvergenzen längst vertraut ist: Ähnlichkeiten, die nach üblichen Kriterien als homolog interpretiert werden, können nicht sicher als Indikatoren für die Existenz gemeinsamer Vorfahren gewertet werden bzw. sie können irreführend sein, wenn man dies doch tut. Der Genetiker Todd Castoe wird mit den Worten zitiert, dass derzeit keine Handhabe zur Verfügung stünde, wie man mit dieser Situation umgehen kann (http://news.sciencemag.org/biology/2013/09/bats-and-dolphins-evolved-echolocation-same-way#disqus_thread). Er äußert allerdings Bedenken wegen der Untersuchungsmethode, die nur indirekte Hinweise auf das Vorliegen von molekularen Konvergenzen erlaubt. Hier können weitere Untersuchungen aber Aufschluss geben.
Literatur
Braun HB (2012) Warten auf einen neuen Einstein. Stud. Int. J. 19, 12-19.
Li G, Wang J, Rossiter SJ, Jones G, Cotton JA, Zhang S (2008) The hearing gene Prestin reunites echolocating bats. Proc. Natl. Acad. Sci. 105, 13959-13964.
Li Y, Liu Z, Shi P & Zhang J (2010) The hearing gene Prestin unites echolocating bats and whales. Curr. Biol. 20, R55-R56.
Liu Y, Cotton JA, Shen B, Han X, Rossiter SJ & Zhang S (2010) Convergent sequence evolution between echolocating bats and dolphins. Curr. Biol. 20, R53-R54.
Parker J, Tsagkogeorga G, Cotton JA, Liu Y, Provero P, Stupka E & Rossiter SJ (2013) Genome-wide signatures of convergent evolution in echolocating mammals. Nature, doi:10.1038/nature12511
Teeling EC (2009) Hear, hear: the convergent evolution of echolocation in bats? Trends Ecol. Evol. 24, 351-354.
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1 Prestin wird beim Hörvorgang benötigt und codiert für ein Transmembran-Motorprotein, welches das elektrisch vermittelte Bewegungsvermögen der äußeren Haarzellen in der Schnecke steuert und damit für die Sensitivität der Schnecke im Säugerohr verantwortlich ist. Es scheint von besonderer Bedeutung für die Wahrnehmung höherer Frequenzen und für selektives Hören zu sein; beides ist für die Echoortung wichtig (Teeling 2009, 353; Li et al. 2008, 13959).
2 „Bei der aktuellen Untersuchung wurden auch echoortende Zahnwale einbezogen, und basierend auf der Sequenz von Prestin, bestanden mehr Ähnlichkeiten zwischen den echoortenden Fledermäusen und Walen, als zwischen den nicht-echoortenden, aber viel näher verwandten Fledermausarten. Dies legt nahe, dass die Veränderungen des Prestinproteins wichtig sind für ein funktionstüchtiges Echoortungssystem.“ (http://www.science-meets-society.com/wissenschaftsnews/die-konvergenz-der-echoortung/)
3 „Doch die Mechanismen der Echoortung ähneln sich stark. Trotz so unterschiedlicher Erfordernisse, wie eine Anpassung an die Dichteunterschiede der Medien wie Luft und Wasser und auch der überbrückten Distanz, von einigen Metern bei Fledermäusen zu mehreren hundert Meter bei Delphinen, finden sich beeindruckende Übereinstimmungen in den anatomischen Bausteinen, die für die Verarbeitung der Echosignale zuständig sind.“ (http://www.science-meets-society.com/wissenschaftsnews/die-konvergenz-der-echoortung/) Autor dieser News: Reinhard Junker Informationen über den Autor
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