29.04.14 Ein weiterer Baustein der kambrischen Explosion: Gliederfüßer als Filtrierer
Die kambrischen Gesteinsschichten bergen eine große Anzahl verschiedenster Baupläne, die recht abrupt in der Fossilüberlieferung erscheinen. Die dort auch vertretenen Anomalocariden galten bisher als furchterregende Räuber. Nun hat sich herausgestellt, dass einige von ihnen Filtrierer waren, die Kleinstlebewesen aus dem Wasser siebten. Damit sind sie ein weiterer Baustein der kambrischen Tier-Vielfalt und wieder einmal ein Beispiel für Konvergenz – die mehrmalige unabhängige Entstehung eines komplexen Bauplanelements.
Im Jahr 1989 beschrieb der unvergessene Paläontologe Stephen J. Gould in seinem Buch „Wonderful Life“ (deutsch 1991) die ungewöhnliche Tierwelt des Kambriums, besonders des mittelkambrischen Burgess-Schiefers in Britisch-Kolumbien (Kanada). Unter dessen Fossilien klassifizierte er 20 neue Tierstämme mit großen Bauplan-Unterschieden, die er als „irre Wundertiere“ bezeichnete; die äußerst vielgestaltigen Tiere nannte er „einzigartige Gliederfüßer“ mit einem „Maximum an anatomisch leistungsfähigen Möglichkeiten“. Seiner Meinung nach übertreffen die Burgess-Fossilien „wahrscheinlich das gesamte Spektrum des wirbellosen Lebens in den heutigen Ozeanen“.
Zu diesen „irren Wundertieren“ gehören die Anomalocariden („ungewöhnliche Garnelen“). Mit einer Länge von bis zu zwei Metern waren die unter den größten Tieren der kambrischen Gewässer. Sie werden zu den Gliederfüßern (Arthropoda) gerechnet. Mit ihren Seitenlappen am segmentierten Rumpf waren sie wahrscheinlich gute und wendige Schwimmer.
Die Anomalocariden galten bislang als formidable Räuber, doch neuere Untersuchungen stellen das teilweise in Frage und liefern ein überraschendes Ergebnis. Neue Fossilfunde aus Nordgrönland legen nahe, dass einige Arten der Anomalocariden sich mit Hilfe einer ausgeklügelten Filtriertechnik von Plankton ernährten – ähnlich wie die heutigen Bartenwale wie z. B. der Blauwal. Untersucht wurden fünf fossil erhaltene, stachelbewehrte, ca. 12 cm lange Anhänge und zwei mit dem Kopfschild verbundene Anhänge von Tamisiocaris borealis aus der unterkambrischen Sirius-Passet-Konservat-Lagerstätte (Bild einer Rekonstruktion hier: http://d.ibtimes.co.uk/en/full/1370642/tamisiocaris.jpg). Dabei wurden die beiden langen, stachelbewehrten Anhänge am Kopf genauer unter die Lupe genommen. Die Greifer erwiesen sich als beweglich und die filigranen Fortsätze besitzen feine, ineinander greifende Stacheln. Diese interpretieren die Forscher als Werkzeuge, mit deren Hilfe Tamisiocaris Organismen ab einer Größe von etwa ½ Millimeter aus dem Wasser gefischt hat (Vinther et al. 2014). „Ausgestreckt bilden sie eine Art Kamm, den der Urzeit-Gliederfüßer durch das Wasser gezogen haben könnte wie eine Art Netz. Rollte er dann die Anhänge zum Mund hin ein, bildeten ihre Borsten einen dichten Käfig, in dem gefangene Organismen hängenblieben“ (Podbregar 2014).
Aufgrund der Filtrierer-Fähigkeit stellen die Forscher Tamisiocaris in die neue Gruppe der Cetiocaridae (Walgarnelen; cetus, lat. = Wal; „caris“ steht für Garnele). Die Autoren schließen, dass ein vielfältiges Ökosystem mit gut entwickelten Nahrungsketten in den offenen Meeren ausgeprägt gewesen sei.1 Denn um als Filtrierer leben zu können, ist eine hohe Primärproduktion und ausreichend Plankton Voraussetzung. Vinther et al. (2014) geben auch eine Übersicht über die Vielfalt des Baus der Anhänge der Anomalocariden, z. B. solche mit dreizackigen Stacheln oder mit scherenartigen Anhängen und stellen fest (S. 498), dass die außerordentliche morphologische Vielfalt der Anhänge zeige, dass es sich bei den Anomalocariden nicht um ein gescheitertes Evolutionsexperiment handle, sondern um eine umfangreiche Radiation im Laufe der kambrischen Explosion.2
Die Untersuchung ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Zum einen vergrößern die Beobachtungen an Tamisiocaris die Vielfalt an ausgeklügelten Einrichtungen, die bereits im Unterkambrium ohne erkennbare Vorfahren präsent waren. Zum anderen zeigen sie einmal mehr, dass komplexe Einrichtungen mehrfach (oft vielfach) unabhängig auftauchen – in diesem Fall die Fähigkeit der Nahrungsfiltrierung. Eine ganze Reihe von Filtrierern gibt es außer den bereits erwähnten Bartenwalen auch unter den Gliederfüßern; und die Filtrierer sind nun um ein interessantes Mitglied erweitert worden, das diese Fähigkeit unabhängig erworben haben muss (Konvergenz). Vinther et al. (2014) erwähnen, dass bei den Cetiocaridae ähnliche Einrichtung zum Filtrieren verwirklicht sind wie bei anderen Filtrieren unter den Gliederfüßern (z. B. den Rankenfußkrebsen, Cirripedia). Dabei muss bedacht werden, dass diese Fähigkeit sehr anspruchsvoll ist und viele Details zusammenstimmen müssen. Ein allmählicher Erwerb oder – wie man evolutionstheoretisch vermutet – ein Umbau von einer räuberisch lebenden Ausgangsform sind sehr fragwürdig. Denn um ernährungsmäßig über die Runden kommen zu können, muss die Filtrierfunktion gut ausgebaut sein. Und der Verlust des räuberischen Nahrungserwerbs kann selektiv wohl kaum begünstig werden, solange die neue Art des Nahrungsgewinns nicht ausreichend funktioniert.
Vinther et al. (2014, 499) dagegen werten die Existenz der filtrierenden Gattung Tamisiocaris und das Ausmaß unabhängiger (konvergenter) Entstehung ähnlicher Konstruktionen als Beleg für Vorhersagbarkeit und Kanalisierung der Evolution. Worin diese Kanalisierung aber bestehen soll, ist völlig unklar und wird nicht thematisiert. Die Annahme einer zielorientierten, sprich schöpferischen Verursachung ist viel naheliegender.
Literatur
Gould SJ (1989) Wonderful Life. New York: W. W. Norton & Co. (dt. 1991: Zufall Mensch. München – Wien)
Vinther J, Stein M, Longrich NR & Harper DAT (2014) A suspension-feeding anomalocarid from the Early Cambrian. Nature 507, 496-500.
Podbregar N (2014) Sanfte Riesen im Urzeitmeer. http://www.wissenschaft.de/erde-weltall/palaeontologie/-/journal_content/56/12054/3250966/Sanfte-Riesen-im-Urzeitmeer/
Anmerkungen
1 „The Cambrian pelagic food web was therefore highly complex containing multiple trophic levels, including pelagic predators and multiple tiers of suspension feeders” (Vinther et al. 2014, 499).
2 „This extraordinary range of appendage morphologies shows that, far from being a failed experiment, anomalocarids staged a major adaptive radiation during the Cambrian explosion, evolving to fill a range of niches as nektonic predators, much like the later radiations of vertebrates and cephalopods, including suspension feeders“ (Vinther et al. 2014, 498). Autor dieser News: Reinhard Junker Informationen über den Autor
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