07.07.14 Von Anfang bis heute fast unverändert: Programmierter Zellabbau
Die molekularen Bestandteile, die dem programmierten Zellabbau (oder Zelltod, Apoptose) zugrunde liegen, sind zwischen Mensch und Koralle austauschbar. Aus evolutionsbiologischer Perspektive muss ein erstaunliches Ausmaß an evolutionärem Stillstand (Stasis; Konservierung) postuliert werden. Ausgerechnet unter den basalen und damit als stammesgeschichtlich sehr alt geltenden Vielzellern findet sich das vielseitigste Apoptose-System.
Ein wichtiger formbildender Prozess in der Ontogenese (=individuelle Entwicklung von der befruchteten Eizelle bis zum ausgewachsenen Organismus) ist der programmierte Zellabbau, also das physiologische (nicht krankhafte), programmierte Absterben von Zellen (Apoptose). Während es z. B. beim krankhaft bedingten Zelltod in der Regel zu einem unkontrollierten Aufquellen und Zerplatzen der Zelle oder zu einer unkoordinierten Zerstörung von Eiweißen oder Zellorganellen kommt (Nekrose), geschieht die Auflösung der Zellbestandteile und ihr Abbau im Rahmen der Apoptose hochgradig organisiert und physiologisch gesteuert. Apoptose dient damit immer dem Erhalt oder der koordinierten Entwicklung des Organismus. Beispielsweise werden Gewebestrukturen zwischen den ontogenetischen Anlagen von Fingern und Zehen kontrolliert zum Abbau gebracht oder durch die Auflösung der Zellen von Glaskörper und Linse wird die Lichtdurchlässigkeit der Augenlinse ermöglicht. Aber auch im ausgewachsenen Organismus spielt Apoptose eine wichtige Rolle, z. B. in der Kontrolle der Zellzahl und der Größe von Geweben, bei der Entfernung entarteter Zellen oder bei der Rückbildung der Gebärmutter nach der Geburt. Bei der Apoptose werden Nachbarzellen bzw. -gewebe durch austretende Gifte wie im Fall des o.g. krankhaft bedingten Zelltodes nicht geschädigt.
Es ist schon länger bekannt, dass die molekulare Basis der Apoptose hochkonserviert ist, das heißt, sie ist bei sehr verschiedenen Organismengruppen sehr ähnlich, was evolutionstheoretisch so interpretiert wird, dass dieser Mechanismus stammesgeschichtlich sehr früh entstand und anschließend nicht mehr nennenswert verändert wurde. In einer neuen Untersuchung wiesen amerikanische Wissenschaftler (Quistada et al. 2014) nach, dass Apoptose auch bei riffbildenden Korallen vorkommt. Diese gelten im Rahmen der Evolutionsanschauung als Repräsentanten einer der ältesten Tiergruppen. Es zeigte sich, dass alle wesentlichen Komponenten des Apoptose-Programms bei Korallen vorhanden sind und denen des Menschen gleichen. Dabei spielen die Tumornekrosefaktor (TNF)-Superfamilien (TNFRSF/TNFSF) eine zentrale Rolle. Die Wissenschaftler untersuchten 53 Proteine der TNFRSF- und TNFSF-Familien in der riffbildenden Koralle Acropora digitifera und stellten große Sequenzähnlichkeiten mit den entsprechenden Proteinen des Menschen fest, besonders bezüglich der aktiven Zentren dieser Eiweiße. Ein Vergleich mit der Taufliege Drosophila ergab, dass in dieser Linie im Gegensatz zur Linie zum Menschen wichtige Teile der TNF-Superfamilie fehlen, was evolutionstheoretisch als Verlustentwicklung interpretiert wird. Zuvor war angenommen worden, dass die Zahl der Mitglieder der TNF-Superfamilie nach der Trennung der Linie der Wirbeltiere von der der Wirbellosen zugenommen habe. Nun hat sich herausgestellt, dass im Gegenteil die Korallen das vielseitigste Repertoire der TNF-Superfamilien besitzen.
Die große Ähnlichkeit der molekularen Komponenten des Apoptose-Prozesses bei Korallen und Menschen wurde eindrucksvoll demonstriert durch die Einführung eines menschlichen TNF (HuTNFα) in die Korallen. Es zeigte sich, dass es direkt an die Korallen-Zellen bindet, dadurch die Caspase-Aktivität erhöht, was (über eine Kaskade von Prozessen) zur für die Apoptose typischen Bläschenbildung und zum Zellabbau führt. (Capsasen sind Enzyme, die Proteine durch Hydolyse abbauen und bei der Apoptose eine besondere Rolle spielen.) Umgekehrt führte ein TNF von Korallen (AdTNF1) bei menschlichen Zellen zu einem signifikant häufigeren physiologisch hervorgerufenen Zelltod. TNF von Korallen und Menschen sind also austauschbar.
Beispiele wie der zelluläre Apoptose-Mechanismus zeigen einerseits ein erstaunliches Ausmaß an Konservierung eines zellulären Prozesses und seiner Bestandteile; in evolutionstheoretischer Interpretation muss ein Stillstand bezüglich der Evolution dieses Mechanismus von mindestens 550 Millionen Jahren angenommen werden. Andererseits werfen sie aber auch die Frage auf, wann und wie ein solcher Mechanismus überhaupt evolutiv entstand. Denn wenn er offenkundig nicht nennenswert veränderbar ist, wie sollen dann hypothetische Vorstufen in irgendeiner Weise funktional und damit existenzfähig sein? Die Daten zeigen einmal mehr: Abruptes Auftreten und dann weitgehend Konstanz eines zentralen biologischen Struktur- und Funktionsgefüges.
Literatur
Quistada SD, Stotlanda A et al. (2014) Evolution of TNF-induced apoptosis reveals 550 My of functional conservation. PNAS early ed, doi: 10.1073/pnas.1405912111 Autor dieser News: Reinhard Junker Informationen über den Autor
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