09.12.14 „Brauchen wir eine neue Evolutionstheorie?“
Unter der Fragestellung „Does evolutionary theory need a rethink?“ erschien Anfang Oktober in der Wissenschaftszeitschrift Nature ein Pro und Contra zweier Gruppen von Wissenschaftlern. Ende November wurde eine deutsche Übersetzung veröffentlicht.1 Die Auseinandersetzung zeigt, dass es nicht die eine, alles erklärende Evolutionstheorie gibt, sondern eine Vielzahl von theoretischen Ansätzen, die zum Teil miteinander konkurrieren oder gar einander ausschließen. Manche Ansätze laufen darauf hinaus, dass eine Zielorientierung angenommen werden muss. Das erinnert an den Design-Ansatz, doch die Quellen für Zielsetzungen werden in den Lebewesen gesucht, während ein willensbegabter geistiger Urheber tabu ist.
Als im Jahr 1959 das hundertjährige Jubiläum von Charles Darwins Evolutionstheorie gefeiert wurde, galten die wesentlichen Fragen der Evolutionsforschung als geklärt. Dazu gehörte auch der auf Darwin zurückgehende Mechanismus von Variation und Selektion (natürliche Auslese), der als rein natürlicher Prozess verstanden wird und gleichsam naturgesetzmäßig verlaufen soll. Die Variationen innerhalb von Arten entstehen demnach durch Mutationen, das sind Änderungen des Erbguts, die richtungslos in Bezug auf potentielle Ziele verlaufen (und in diesem Sinne zufällig sind). Die durch Mutationen entstandenen Varianten bilden das Rohmaterial, das der Selektion zur Verfügung steht. Bei Überproduktion der Nachkommen gelangt tendenziell nur der bestangepasste Teil selbst zur Fortpflanzung und kann seine Merkmalsausprägungen an die nächste Generation weitergeben. Dieses Wechselspiel von Zufallsvariation (Mutation) und Auslese (Selektion) soll im Laufe großer Zeiträume dafür sorgen, dass Arten sich nicht nur an wechselnde Umweltbedingungen anpassen, sondern letztlich auch neue Baupläne mit völlig neuen Bauelementen entstehen.2 Seit den 1930er und 1940er Jahren hatte sich die Synthetische Evolutionstheorie etabliert und war viele Jahrzehnte ziemlich unangefochten. Deren Szenario war weitgehend Konsens im Jahr 1959 und im Großen und Ganzen bestimmt diese Sicht die öffentliche Darstellung des evolutionären Prozesses bis in unsere Zeit.
Doch diese Situation hat sich mittlerweile grundlegend geändert. Eine Fülle neuer Ansätze für kausale Evolutionstheorien wurde in die Diskussion eingebracht und viele Fachartikel beginnen mit der Feststellungen wie: „... we have made relatively little progress in understanding how novel traits come into being in the first place“ (Moczek 2008, 432) oder: „How body pattern evolves in nature remains largely unknown“ (Cleves et al. 2014, 13912). Diese Einschätzungen überraschen, da doch schon vor über 50 Jahren häufig zu lesen und zu hören war, die Frage nach den Evolutionsmechanismen sei im Wesentlichen geklärt. Offenbar ist einer wachsenden Zahl von Biologen bewusst geworden, dass mit den einst als vollständig erachteten kausalen Faktoren der Synthetischen Theorie nichts wirklich Neues zustande kommt. Evolution, als naturgeschichtlicher Prozess, aber gilt dessen ungeachtet als nicht hinterfragbare Tatsache. Also muss nach neuen Wegen gesucht werden, auf denen u. a. die Entstehung neuer Baupläne verlaufen konnte.
Eine Gruppe von Evolutionsbiologen sieht nach wie vor keinen Grund zu einem grundsätzlichen Umdenken in der Frage nach den Triebfedern und Mechanismen der Evolution. Andere dagegen fordern eine deutliche Erweiterung bisheriger Theorien. Mittlerweile haben sich in dieser Frage verschiedene Lager gebildet. Dieser Eindruck wird bestätigt, wenn man ein Pro und Contra verfolgt, dass die Wissenschaftszeitschrift Nature Anfang Oktober veröffentlicht hat (Laland et al. 2014, Wray et al. 2014). Eine Gruppe, vertreten durch acht Wissenschaftler meint, die Evolutionstheorie brauche dringend ein Umdenken, es sei eine Erweitere Evolutionäre Synthese (EES) unter Einbeziehung bisher vernachlässigter Disziplinen erforderlich (Pro-Gruppe). Das sei kein Sturm im Wasserglas, sondern ein Kampf um die Seele der Evolution. Sieben Wissenschaftler, die die traditionelle Sicht vertreten (Contra-Gruppe), halten dagegen: Mit der (kausalen) Evolutionstheorie sei alles in Ordnung. Das verfügbare Wissen, dass die Pro-Gruppe einfordere, sei schon berücksichtigt oder ließe sich auch in Zukunft in den bekannten Rahmen einfügen. Es gebe keinen Anlass für eine Neukonzeption.
Vier Bausteine für eine Erweiterte Evolutionäre Synthese
Die Pro-Gruppe nennt vier Aspekte, die nach ihrer Auffassung in der Standard-Evolutionstheorie nicht als Evolutionsfaktoren berücksichtigt, sondern als deren bloße Folge angesehen würden:
• Der genzentrierte Ansatz (Genänderungen als Initialzündungen) müsse ergänzt werden durch die Berücksichtigung zahlreicher Wechselwirkungen mit äußeren und inneren Einflüssen während der ontogenetischen Entwicklung. Diese führen u. a. zu Einschränkungen der Entwicklungsrichtungen („developmental bias“, Entwicklungszwänge) und begrenzen damit mögliche Variationen von Merkmalsausprägungen ein Stück weit (es erfolgt quasi eine Kanalisierung), bevor die Umweltselektion wirkt.
• Die Umweltbedingungen haben nicht nur eine passive Rolle als Selektionsfaktoren, vielmehr werde die Umwelt durch die Lebewesen aktiv mitgestaltet (Nischenkonstruktion); dadurch beeinflussen die Lebewesen selbst auch ihre eigene Evolution.
• Durch die Plastizität der Lebewesen (Änderungen infolge von Umweltreizen – ohne Genänderungen!) sei eine schnelle Anpassung und sogar die Offenlegung bisher verborgener Merkmale möglich, die nachfolgend durch Genvariationen (Mutationen) dauerhaft sichtbar fixiert werden können.
• Extragenetische Veränderungen (Epigenetik) in der Gen-Regulation könnten wie die Gene selber ebenfalls vererbt werden und Einfluss auf Evolution nehmen.
Die Contra-Fraktion hält dagegen, dass die genannten vier Phänomene zwar tatsächlich bedeutende evolutionäre Prozesse und Gegenstand ihrer eigenen Forschungen seien, dass sie aber nicht dermaßen in den Fokus gerückt werden müssten, dass die Einführung einer neuen Bezeichnung wie „Erweiterte Synthese in der Evolutionstheorie“ gerechtfertigt sei. Es treffe nicht zu, dass diese Faktoren in der Standard-Evolutionstheorie vernachlässigt würden. Vielmehr gebe es nur neue Namen für alte Konzepte. Von der Standard-Evolution werde durch die Vertreter der EES eine Karikatur gezeichnet. Weiter sei es verfehlt, eine Gen-Zentriertheit zu kritisieren, denn Veränderungen im Erbgut hätten einen wesentlichen Anteil an Anpassung und Artbildung, was in vielen Fällen auch genau belegt sei (z. B. Antibiotikaresistenzen oder Laktosetoleranz beim Menschen). Es sei außerdem nicht geklärt, ob die Plastizität genetische Variationen im Rahmen des Adaptationsprozesses tatsächlich steuern bzw. fixieren kann. Ebenso sei die Rolle der Entwicklungszwänge (developmental bias) auf die Evolution adaptiver Merkmale schwer zu bestimmen. Schließlich gebe es keine stichhaltigen Beweise für eine tragende Rolle vererbter, epigenetischer Modifikationen auf evolutionäre Anpassung. In den vier o. g. Phänomenen sieht die Contra-Gruppe daher lediglich Erweiterungen der bislang favorisierten zentralen Prozesse des evolutionären Wandels (natürliche Selektion, Drift, Mutation, Rekombination und Genfluss). Die neu eingeforderten Mechanismen seien allesamt nicht essentiell für die Evolution, sondern modifizieren lediglich die bekannten Erklärungen für evolutionäre Prozesse unter gewissen Umständen.
Kommentar
Diese Auseinandersetzung zeigt, dass es entgegen vieler öffentlicher Verlautbarungen nicht die eine, alles erklärende Evolutionstheorie gibt, sondern eine Vielzahl von theoretischen Ansätzen, die zum Teil miteinander konkurrieren oder gar einander ausschließen (vgl. dazu Ullrich 2010). Diese Situation resultiert aus dem wissenschaftlichen Erkenntnisprozess und dokumentiert an sich einen normalen innerwissenschaftlichen Prozess. Die Brisanz ergibt sich in diesem Fall aus dem Forschungsgegenstand Evolution. Evolution wird einerseits als historisches Faktum vorausgesetzt, konnte andererseits aber auch über 150 Jahre nach Darwin bisher kausal nicht erschlossen werden. Eine Reihe von Wissenschaftlern hält beim gegenwärtigen Wissensstand die Standard-Evolutionstheorie für so ungenügend, dass sie eine substantielle Erweiterung für erforderlich halten. Die Frage nach den Mechanismen erscheint weniger klar denn je. Die Vielfalt neuer Ansätze ist genau dafür ein gewichtiges Symptom. Es wäre wichtig, wenn dieser Aspekt stärker auch ins öffentliche Bewusstsein treten und bei der Debatte um Schöpfung und Evolution Berücksichtigung finden würde.
Ob die Lösungsansätze der Pro-Gruppe erfolgversprechend sind, ist bislang zweifelhaft, und zwar aus folgenden Gründen. Zwei der vorgeschlagenen Ansätze – die Berücksichtigung der Plastizität und der epigenetischen Vererbung für Erklärungen evolutionärer Innovationen – ermöglichen für sich alleine gar keine Evolution, da nach bisheriger Kenntnis die betreffenden Änderungen jederzeit rückgängig gemacht werden können und in der Regel nicht stabil (oder gar nicht) an die nächsten Generationen weitergegeben werden. In beiden Fällen handelt es sich um Änderungen, die zunächst in irgendeiner Form – ausgelöst durch Umweltreize – abgerufen werden und keine Änderungen im Erbgut beinhalten. Bei erneuten Änderungen dieser Umweltreize ändern sich aber auch die betreffenden Merkmalsausprägungen und fallen z. B. in den vorherigen Zustand zurück. Was ist dann für die Evolution gewonnen? Aufgrund von Umweltreizen oder epigenetisch gesteuerte Veränderungen müssen also nachfolgende Merkmalsvarianten durch passende Mutationen gleichsam festgehalten (fixiert) werden, und diese müssen dann sich in „klassischer Weise“ in den Populationen durchsetzen. Die Kritik der Contra-Gruppe ist an dieser Stelle daher verständlich. Die Mutmaßung, dass durch plastische Reaktionen konstruktive Neuheiten entstehen können, ist experimentell nicht nachvollzogen und auch theoretisch sehr unwahrscheinlich. Eine Zusammenfassung der Ansätze findet sich bei Junker (2014). Beide Faktoren – Plastizität und Epigenetik – sind aber aus einer Schöpfungsperspektive sehr interessant, ermöglichen sie doch den Lebewesen eine weitreichende Anpassungsfähigkeit und enorme Flexibilität bei wechselnden Umweltbedingungen (Näheres bei Junker 2014).
Dass ontogenetische Entwicklungszwänge evolutionär weiterhelfen sollen, ist ebenfalls fragwürdig. Denn Entwicklungszwänge und kanalisierende Randbedingungen während der Ontogenese „filtern“ zwar einerseits unpassende bzw. inkompatible Veränderungen aus, so dass nur ein Teil der potentiell möglichen Veränderungen eine Ausprägung im Erwachsenenalter erfährt – damit erfolgt eine interne Vorselektion der neuen Varianten. Aber weshalb soll andererseits dies dazu beitragen, dass neue Formen entstehen? Durch den Verweis auf ontogenetische Entwicklungszwänge wird nur ein problematischer Aspekt der Standard-Evolutionstheorie entschärft, nämlich die Zufälligkeit der Veränderungen des der Evolution zur Verfügung stehenden „Rohmaterials“. In dieser Zufälligkeit wird offenbar ein Problem gesehen, aber die vorgeschlagenen Lösungen helfen nicht in Bezug auf die Entstehung von Neuheiten. Ähnliche Kritik kann man beim Faktor „Nischenkonstruktion“ formulieren.
Design in der Natur
Bemerkenswert ist im Beitrag der Pro-Gruppe ein Satz über den Design-Ansatz („Intelligent Design“). Die Autoren mutmaßen, dass „die Evolutionsbiologen auch – gejagt vom Schreckgespenst des Intelligent Design – eine geschlossene Front gegenüber wissenschaftsfeindlichen Ansätzen bilden“ möchten. Diese Befürchtung ist berechtigt (nicht aber die Unterstellung der Wissenschaftsfeindlichkeit). Denn die Mängel der Standard-Evolutionstheorie begünstigen eben auch ganz alternative Ansätze wie den Design-Ansatz und zwar genau aus dem Grund, weshalb die Pro-Gruppe nach neuen naturalistischen Ansätzen sucht: Es braucht eine wie auch immer geartete Steuerung: Plastizität, Epigenetik, Entwicklungszwänge und Nischenkonstruktion haben nämlich in den Augen der Pro-Gruppe eines gemeinsam: Man sieht Bedarf an der Eindämmung des Zufalls und an gezielter Anpassung; die Umweltselektion wird dafür als nicht ausreichend erachtet. Im Grunde genommen werden mit diesen Ansätzen Zielorientierungen eingeführt; die sich aus dem Organismus selbst heraus ergeben sollen. Das aber stützt eine Art Design-Ansatz, mit der paradoxen Besonderheit, auf eine intentionale (willensbegabte) geistige Quelle zu verzichten. Die Integration einer intentionalen geistigen Quelle als Erklärungsoption für das Sosein des Lebens ist im wissenschaftlichen Mainstream nämlich tabu. Man wird also weiterhin natürliche Mechanismen suchen und auf den Prüfstand stellen, um rein natürliche, blinde, nichtgeistige Naturprozesse aufzuspüren, die kreativ sein sollen. Der Naturwissenschaft wird diese Vorgehensweise sicherlich weitere und unerwartete Erkenntnisse liefern. Ob diese uns jedoch der Antwort nach den Ursachen und Mechanismen der hypothetischen Evolution näher bringen, darf mit Blick auf die Geschichte bezweifelt werden.
Die Frage nach einem Schöpfer stellt sich also auch weiterhin, nicht weil die Naturwissenschaft versagt, sondern weil zu erwarten ist, dass der durch sie generierte Wissenszuwachs weiterhin Hinweise auf die Existenz einer geistigen Verursachung des Lebens liefern wird.
Quellen
Cleves PA, Ellis NA, Jimenez MT, Nunez SM, Schluter D, Kingsley DM & Miller CT (2014) Evolved tooth gain in sticklebacks is associated with a cis-regulatory allele of Bmp6. Proc. Natl. Acad. Sci. 111, 13912-13917.
Junker R (2014) Plastizität der Lebewesen: Baustein der Makroevolution? http://www.wort-und-wissen.de/artikel/sp/b-14-2-plastizitaet.pdf
Laland K et al. (2014) Does evolutionary theory need a rethink? Yes, urgently. Nature 514, 161-164.
Moczek AP (2008) On the origins of novelty in development and evolution. BioEssays 30, 432-447.
Ullrich H (2010) Evolution und Evolutionstheorien. Irrtümliche Selbstverständnisse und Fehldarstellungen naturalistischer Ursprungsmodelle. Stud. Integr. J. 17, 76-87.
Wray G et al. (2014) Does evolutionary theory need a rethink? No, all is well. Nature 514, 161-164.
Anmerkungen 1 http://www.spektrum.de/news/brauchen-wir-eine-neue-evolutionstheorie/1320620
2 „Das Endresultat der natürlichen Selektion ist es, dass jede Kreatur dahin strebt, im Verhältnis zu den Bedingungen, in denen sie lebt, immer vollkommener zu werden. Diese Verbesserung führt unvermeidlich zu einem Fortschritt in der Organisation der meisten Lebewesen“ (Charles Darwin: Über den Ursprung der Arten. London, 1859). Autor dieser News: Reinhard Junker Informationen über den Autor
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