18.12.20 Chamäleon-ähnlicher Beutefang mit Zungenschleuder bereits in der Kreide
Die vor allem auf dem afrikanischen Kontinent und angrenzenden Gebieten beheimateten Chamäleons fangen ihre Beute mit einer sehr speziellen und komplexen Methode. Habe sie ein entsprechendes Insekt fixiert, so können sie es mit ihrer Zunge erfassen, die sie bis zum 2,5-fachen ihrer Körperlänge herausschleudern und sie in ihr Maul befördern. Bernsteininklusen aus der Kreide von Myanmar zeigen, dass solche Mechanismen bereits damals etabliert waren.
Ein faszinierender Bernsteineinschluss zeigt fossile Hinweise auf einen bei heute lebenden exotischen Tieren bekannten Jagdmechanismus. Im Rahmen einer Studie an zwölf fossilen Eidechsen in Bernstein aus der Kreide (ca. 100 Millionen radiometrische Jahre; MrJ) von Myanmar beschrieben Daza et al. (2016) auch eine kleine Eidechsen-Inkluse (10,6 mm Länge). Diese Eidechse hatte einen relativ großen Kopf, kaum erkennbare Schuppen, gut erhaltene Klauen und wies einen auffallend kurzen, gebogenen Schwanz auf. Die Autoren sahen darin ein neugeborenes (neonatal) Tier, das aufgrund von Ähnlichkeitsvergleichen als zur Stammgruppe der Chamäleons gehörig interpretiert wurde.
Kürzlich berichteten Daza et al. (2020) von einem in Bernstein eingeschlossenen Kopf eines Amphibiums aus der Familie der Albanerpetontidae ebenfalls aus der Kreide von Myanmar. Die Albanerpetontidae sind eine nur fossil bekannte Amphibienfamilie, die den Schwanzlurchen zugerechnet wird und deren Arten kleinen Salamandern ähnlich sehen (Gardener & Böhme 2008). Der dreidimensional erhaltene Schädel ist von der Schnauzenspitze bis zum Hinterkopf 12,2 mm lang. Die Autoren schätzen die Körperlänge (Schnauze bis Becken) durch Vergleich mit einem anderen fossilen Albanerpetontiden (Celtedens ibericus; McGowan & Evans 1995) auf 52 mm. Das Tier wurde Yaksha peretti1 benannt. Im Bernstein ist der enthaltene Kopf nicht wirklich gut zu sehen. Ein hochaufgelöstes computertomographisches Bild lässt allerdings erstaunliche Details erkennen. Am bezahnten Unterkiefer ist die Verwachsung (Symphyse) von linkem und rechtem Unterkieferteil (am Kinn) verzahnt, was auf eine gewisse Flexibilität schließen lässt. Sehr auffällig ist eine knorpelartige Verlängerung des Zungenbeins (hyoid entoglossal process, hep). Dieselbe Struktur war bei dem von Daza et al. (2016) beschriebenen neugeborenen Tier aufgefallen und war der Hauptgrund, warum es als zur Stammgruppe der Chamäleons gehörig eingestuft wurde.
Das Zungenbein ist bei Wirbeltieren nicht direkt mit dem übrigen Skelett verknüpft, sondern bildet Ansatzstellen für Muskeln und wird dadurch in seiner Position gehalten. Der Fortsatz des Zungenbeins spielt bei der für Chamäleons typischen Art, Beute zu fangen, eine grundlegende Rolle. Sie können ihre Zunge herausschleudern und dabei eine Beute in einer Entfernung von ein bis 2,5 Körperlängen zielsicher treffen und ins eigene Maul befördern. Der gesamte Prozess hat eine extreme Dynamik und läuft im Bereich von wenigen Millisekunden ab, so dass den Beutetieren nur sehr geringe Fluchtchancen bleiben.
Der Mechanismus der Zungenschleuder von Chamäleons ist intensiv untersucht worden, auch mit dem Ziel, diesen für technische Problemlösungen zu nutzen. Im Aufbau zeigt der Zungenapparat eines Chamäleons, dass unmittelbar auf dem Fortsatz des Zungenbeins mehrere Lagen aus Bändern von Kollagenfasern liegen, die ihrerseits von einem Muskelschlauch umgeben sind. Zunächst war nicht klar, wie das Chamäleon seine Zunge mit einer Geschwindigkeit von bis zu 500 m s-1 in Richtung des erspähten Beutetiers abschießen kann, denn allein mit der von den vorhandenen Muskeln gelieferten Energie ist eine solche Beschleunigung nicht zu erreichen. Beobachtungen und entsprechende Modellversuche haben gezeigt, dass der Muskelschlauch den hep nicht komplett bedeckt, sondern das hep zur Mundöffnung hin noch aus dem Muskelschlauch herausragt. (Weiteres, über dem Muskelschlauch liegendes Zungengewebe umschließt den hep vollständig und mündet in der Zungenspitze, dem Zungenpolster.)
Hat das Chamäleon nun ein Beutetier erspäht, so kontrahiert es den Muskelschlauch, der sich dadurch verlängert und sich dem Vorderende des hep nähert. Beim Tier beobachtet man, dass es den Mund öffnet und die Zunge mitsamt dem vorderen Teil des hep aus dem Mund hervorsteht. Durch die Muskelkontraktion und die dadurch bewirkte Verlängerung des Muskelschlauchs werden die Kollagenbänder direkt über dem hep vorgespannt und speichern damit bereits Muskelarbeit. Der Abschuss der Zungenschleuder erfolgt in dem Moment, wenn der Muskelschlauch die abgerundete Spitze des hep erreicht. Dieser wird im selben Moment noch weiter durch die Mundöffnung nach außen geschoben. Durch weitere Kontraktion trägt der Muskelschlauch zu Beschleunigung des Zungengewebes bei. Ein wesentlicher Teil der Beschleunigungsenergie kommt aus der Vorspannung der Kollagenschichten. Durch entsprechende Muskelstränge wird der Zungenapparat – im Erfolgsfall mit der Beute – dann wieder in das geöffnete Maul befördert. Der Rückholvorgang ist verglichen mit dem Herausschleudern langsamer.
Kleine, lungenlose Salamander (Plethodontidae) nutzen eine interessante und noch schnellere Variante zum Beutefang ein. Sie können ihr hep falten und schießen es beim Zungenschuss wie ein Projektil mit dem Zungenapparat so heraus, dass es den Mund komplett verlässt. Dadurch erreichen diese kleinen Salamander noch höhere Geschwindigkeiten bei ihrem Zungenschuss.
Es ist nun sehr interessant, dass die CT-Aufnahmen des Yaksha peretti-Schädels den hep und sogar noch einen Teil des Zungenpolsters an der Spitze des hep abbilden. Daza et al. (2020) interpretieren diesen Befund als Hinweis, dass Y. peretti in ähnlichen Lebensräumen gelebt und mit ähnlichen Methoden Beute gejagt haben wie wir das von Chamäleons heute kennen. Für die Albanerpetontiden wurden auch schon unterirdische Lebensräume diskutiert; dort würden solche Lebens- und Ernährungsweisen aber keinen Sinn ergeben.
Es ist sehr interessant, dass wir schon aus der Zeit der Kreide Befunde haben, die eine hochspezialisierte Jagdtechnik wie die Zungenschleuder belegen und dass der zugrundeliegende Mechanismus heute die Bionik herausfordert und bereichert.
Literatur
Daza JD, Stanley EL, Wagner P, Bauer AM & Grimaldi DA (2016) Mid-Cretaceous amber fossils illuminate the past diversity of tropical lizards. Sci. Adv. 2: e1501080.
Daza JD, Stanley EL, Bolet A, Bauer AM, Arias JS, Cernansy A, Bevitt JJ, Wagner P & Evans SE (2020) Enigmatic amphibians in mid-Cretaceous amber were chameleon-like feeders. Science 370, 687-691.
Gardener JD & Böhme M (2008) Review of Albanerpetontidae (Lissamphibia) with comments on the paleoecological preferences of European Tertiary Albanerpentotids. In: Sankey JT & Baszio S (Hg.) Vertebrate Microfossil Assemblages – Their Role in Paleoecology and Paleobiogeography. University of Indiana Press, Bloomington, 2008, p. 178-218.
McGowan G & Evans SE (1995) Albanerpetontid amphibians from the Cretaceous of Spain. Nature 373, 143-145.
Anschauliche Erklärung des Zungenschuss von Chamäleons: https://www.madcham.de/de/der-zungenschuss/
Anmerkung
1 „Yaksha“ ist ein Geist, ein Wächter natürlicher Kostbarkeiten, der in der Erde oder in Baumwurzeln verborgen ist; mit „peretti“ wird Adolf Peretti für seine Verdienste im Zusammenhang mit der Erforschung von Bernstein inklusen geehrt. Dieser gründete 1996 das GEM RESEARCH SWISSLAB (GRS; gemresearch.ch). Der hier vorgestellte Schädel ist als Holotyp dort gelagert und wird als Herzstück der dortigen Ausstellung präsentiert. Eine Dokumentation der Arbeit ist online verfügbar: https://www.youtube.com/watch?v=jO2cHlujLDM&feature=youtu.be
Autor dieser News: Harald Binder Informationen über den Autor
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