25.06.22 Stummelarme bei T. rex
„Aber Tyrannosaurus – warum sind deine Arme so schrecklich kurz?“- „Damit meine Kumpels nicht aus Versehen reinbeißen.“ Wissenschaft ist oft anstrengend, kann aber auch manchmal erheiternd sein. Jedenfalls hatte ein aktueller Vorschlag zur Lösung eines paläontologischen Rätsels auf mich diese Wirkung. Über den betreffenden Wissenschaftler will ich mich aber keineswegs lustig machen – im Gegenteil: Seine Kreativität in der Suche nach der Antwort auf die ur-biologische Frage „Wozu“ finde ich bewundernswert. Die Wozu-Frage, also die Frage nach dem Zweck einer biologischen Struktur, ist eine Haupttriebfeder biologischer Forschung. Diesbezüglich stellen die Lebewesen die Wissenschaftler häufig vor Herausforderungen. Zur Klärung der Bedeutung einer biologischen Struktur ist die Lebensweise von zentraler Bedeutung. Allerdings ist diese bei Lebewesen, die wir nur fossil kennen, oft schwer herauszufinden. Bei den heutigen Lebewesen waren manche Evolutionsbiologen in der Vergangenheit zu schnell dabei, die Frage „wozu ist das gut?“ mit einem „zu gar nichts mehr“ zu beantworten. Nicht mehr zweckmäßig seien viele Strukturen von Lebewesen, weil sie im Laufe der angenommenen Evolution ihre Funktion verloren hätten. Das wohl berühmteste Beispiel ist der Wurmfortsatz (Appendix) des menschlichen Blinddarms, der keinen Nutzen zu haben schien – bis genauere Untersuchungen dies widerlegten (Bollinger et al. 2007; Smith et al. 2013; Ullrich 2013). Überhaupt ist die Annahme, es gebe funktionslose Organe, nicht bestätigt worden. Der Neugier der Wissenschaftler sei Dank. Die Biologie lebt also gewissermaßen davon, Wozu-Fragen zu beantworten. Das ist ihr Spezifikum. Dahinter steht – meist unausgesprochen – die Auffassung, dass in der Biologie nichts dem Zufall überlassen ist, jedenfalls nichts Wesentliches. Andernfalls würde sich die Frage nach der Funktion eigentlich erübrigen. Da sich die Lebewesen die Zwecke ihrer Organe aber kaum selber ausgedacht haben, steht im Hintergrund der Frage „Wozu“ letztlich immer auch die Frage nach einem zielgerichtet denkenden und handelnden Schöpfer. Ein schönes Beispiel dafür, dass biologische Forschung sich keinesfalls damit zufrieden gibt, nur zu beschreiben, was man vorfindet, ist einer der bekanntesten Dinosaurier: kein geringerer als der „König der Herrscherechsen“ – Tyrannosaurus rex. Dieser beeindruckende König scheint jedoch einen ausgeprägten und unübersehbaren Makel zu haben. Seine Vorderextremitäten sind allzu klein und sehen am mächtigen Körper geradezu kurios, ja fast lächerlich aus (Abb. 409). Sie reichten nicht einmal bis zum Maul. Die kurzen Arme sind deshalb „seit langem Gegenstand von Verwunderung, Spekulationen und sogar Spott von Seiten der Paläontologen und der Öffentlichkeit gewesen“ (Padian 2022, 63). Und natürlich begnügen sich die Biologen nicht mit der Feststellung: „Es ist halt so.“ Selbstverständlich wollen sie wissen, warum das so ist. „Biologischen Theorien zufolge müssen die verkürzten Ärmchen dem T. rex irgendwelche Vorteile verschafft haben“, kommentiert das Online-Wissenschaftsmagazin scinexx (Podbregar 2022). Aber welche Funktion hatten diese derart kurzen Arme? Genau das ist bis heute ein Rätsel, an dem sich die Paläontologen bisher vergeblich die Zähne ausgebissen haben. Alle bislang vorgeschlagenen Antworten sind nicht überzeugend, wie Padian (2022) in einem aktuellen Beitrag erläutert. Dienten die klauenbewehrten Arme dem Festhalten der Beute? Kaum, denn die Schnauze verbiss sich wohl längst tief in der Beute, bevor die kurzem Ärmchen diese überhaupt zu fassen bekamen. Eine Bedeutung bei der Paarung ist ebenfalls ausgeschlossen, da die Ansatzpunkte der beiden Arme viel zu eng zusammen liegen, um den über einen Meter breiten Brustkorb eines Weibchens umfassen zu können. Zudem konnte T. rex seine Arme gar nicht zur Seite bewegen. Auch vorgeschlagene Funktionen in der Kommunikation oder als Signalstruktur sind unwahrscheinlich; auch dafür sind die Arme einfach zu unscheinbar. Im Rahmen phylogenetischer Hypothesen über Abstammungsverhältnisse muss zudem angenommen werden, dass die Vorderextremitäten im Laufe der Evolution kürzer geworden sind – dies gilt auch bei zwei anderen Dinosaurierlinien, den Abelisauriden und den Carcharodontosauriden (Padian 2022, 63; Abb. 410). „Es ist schwer zu erklären, warum es für die Abstammungslinie von Vorteil sein soll, kleinere Arme zu entwickeln, anstatt größere beizubehalten“, stellt Padian (2022, 67) fest. Für alle vorgeschlagenen Funktionen wären größere Arme deutlich effektiver gewesen (S. 63). Was also kann die kleinen Arme von Tyrannosaurus erklären? Padian sieht eine neue heiße Spur, die mit der Lebensweise zusammenhängt: Es gibt nämlich paläontologische Hinweise darauf, dass mehrere Tyrannosaurier gemeinsam an einer Beute fraßen. Möglicherweise jagten sie auch im Rudel. Wenn sich nun mehrere Tiere gleichzeitig über einen Kadaver hermachten und dabei eng beieinander standen, könnte es bei einem solchen Getümmel leicht passieren, dass versehentlich die Arme eines Artgenossen erwischt wurden. Mit kurzen Armen waren die Tiere vor dieser unter Umständen tödlichen Gefahr geschützt. Die Kürze der Arme an sich hätte demnach keine direkte Funktion, würde aber indirekt vor Schaden bewahren. Padian sieht Möglichkeiten, diese ausgefallene Hypothese anhand von paläontologischen Befunden zu überprüfen. So sind Bissspuren am Schädel und anderen Teilen des Skeletts von Tyrannosauriern und anderen Raubdinosauriern bekannt. Es wäre zu klären, ob Bissspuren bei T. rex weniger häufig auftreten. Das wäre eine indirekte Bestätigung seiner Hypothese. Padian diskutiert weitere Testmöglichkeiten, die aber insgesamt kein besonders klares Bild ergeben und teilweise auch nicht besonders zielgenau in Bezug auf die vorgeschlagene Hypothese sind. Jedenfalls hält Padian es für wichtig, beim Verständnis des Körperbaus – hier also der kleinen Ärmchen – auch soziale Aspekte, Fressverhalten und andere ökologische Faktoren zu berücksichtigen. Diskussion Die vorsichtige Argumentation von Padian und die ausführliche Diskussion von Möglichkeiten, seine Hypothese zu testen, sind durchaus lobenswert. Die Lösung des Rätsels der kurzen Ärmchen des „königlichen Herrschers“ kann einen dennoch zum Schmunzeln bringen. Man stelle sich die Szenerie einer gierig fressenden Tyrannosaurus-Horde vor und wie sie Gefahr laufen, sich dabei gegenseitig schwer zu verletzen. Wenn das kein starker Selektionsdruck ist, die Arme schnellstmöglich zurückzubilden! Dass man dabei wichtige Funktionen der Vorderextremitäten verliert, muss man eben in Kauf nehmen. Aber im Ernst: Ein solches Szenario wirft doch einige schwerwiegende Fragen auf. Der mutmaßliche Nutzen der starken Verkürzung – bzw. das Fehlen eines Schadens – ist ja erst dann gegeben, wenn die Arme schon kurz sind. Wie aber verlief der Weg dahin? Die Rückbildung der Vorderextremitäten wäre hinsichtlich anderer Funktionen zunächst ein Selektionsnachteil; was soll sie also selektiv gefördert haben? Vielleicht ist beim gegenwärtigen Stand des Wissens die Feststellung angemessener, dass wir Tyrannosaurus einfach nicht verstehen. Es sind vermutlich noch zu viele unbekannte Aspekte im Spiel. Das gilt auch dann, wenn man die Perspektive wechselt und annimmt, der Grundtyp der Tyrannosauriden sei geschaffen worden. Die Frage „Wozu?“ stellt sich dann genauso. Allerdings erübrigen sich in dieser Sichtweise die Fragen nach Selektionsdrücken für die Rückbildung der Arme, weil ein Schöpfer von vorneherein die Gefahr gegenseitiger Verletzung mit einkalkulieren und von Beginn an kurze Arme schaffen kann. Literatur Bollinger RR, Barbas RS, Bush EL, Lin SS & Parker W (2007) Biofilms in the large bowel suggest an apparent function of the human vermiform appendix. J. Theor. Biol. 249, 826–831. Padian K (2022) Why tyrannosaurid forelimbs were so short: An integrative hypothesis. Acta Palaeont. Polon. 67, 63–76. Podbregar N (2022) Warum hatten Tyrannosaurier so kurze Arme? (4. April 2022) https://www.scinexx.de/news/biowissen/warum-hatten-tyrannosaurier-so-kurze-arme/. Smith HF et al. (2013) Multiple independent appearances of the cecal appendix in mammalian evolution and an investigation of related ecological and anatomical factors. C. R. Palevol., doi:10.1016/j.crpv.2012.12.001. Ullrich H (2013) Der Wurmfortsatz: Vom Nichtsnutz zum Mysterium. Stud. Integr. J. 20, 111–115. Autor dieser News: Reinhard Junker Informationen über den Autor
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