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14.07.22  Gibt es doch keine neutralen Mutationen?

Mutationsforschung bringt ein wichtiges evolutionstheoretisches Konzept ins Wanken

Lange Zeit ging man davon aus, dass es aufgrund des redundanten Charakters des genetischen Codes (d. h. 64 Codons codieren für nur 20 Aminosäuren) neutrale und nicht-neutrale Mutationen in proteincodierenden Genen gibt. Auf der Grundlage dieser Annahme wurden seit über drei Jahrzehnten zahlreiche Arbeiten veröffentlicht, in denen das Verhältnis von neutralen und nicht-neutralen Mutationen als Indikator für Selektion diskutiert wurde. Eine neue Studie in der Zeitschrift Nature zeigt nun, dass es solche neutralen Mutationen wohl kaum gibt.

„Mutationen torpedieren Lehrmeinung“ titelte eine populärwissenschaftliche Webseite Juni 2022 (Podgrebar 2022). Meistens sind solche aussagekräftigen Titel übertrieben und sollen nur die Aufmerksamkeit der Leser gewinnen. In diesem Fall war der Titel aber sehr gut gewählt, da er sich auf ein seit langem bestehendes theoretisches Konzept der Evolutionsbiologie bezieht: neutrale Mutationen. Die neuen Beobachtungen, die in der Fachzeitschrift Nature publiziert wurden (Shen et al. 2022), haben weitreichende Konsequenzen für die Evolutionsbiologie – insbesondere bei der Frage, welche Rolle die Selektion in der Evolution von proteincodierenden DNA-Sequenzen spielt. Um zu verstehen, was die neuen Daten bedeuten, müssen wir uns zunächst der Genetik widmen, die den Mutationen zugrunde liegt, und wir müssen verstehen, wie Evolutionsbiologen aus dem Mutationsgeschehen die Art der Selektion ableiten. Doch zuvor schauen wir uns ganz grundlegend einmal an, wie der genetische Code funktioniert, der für die Codierung der Proteine verantwortlich ist.

Proteine sind Werkzeuge und wichtige Bausteine der Zelle und bestehen aus langen Ketten von Aminosäuren. Es gibt 20 verschiedene Aminosäuren, die eine fast unendliche Vielfalt von verschiedenen Proteinen bilden können. Man kann sich ein Protein wie eine Perlenkette vorstellen, bei der jede Perle eine bestimmte Aminosäure darstellt. In menschlichen Zellen gibt es etwa 21.000 verschiedene Proteinfamilien. Sie alle haben unterschiedliche Funktionen. Jedes einzelne Protein ist im Genom (Erbgut) codiert, durch sogenannte proteincodierende Gene, lange Abschnitte von Nukleotiden (A, C, G und T). Wie ein Protein kann man sich auch ein Gen auch wie eine Perlenkette vorstellen, bei der jede Perle ein DNA-Buchstabe ist. Abb. 411 zeigt, wie die 64 Codons des genetischen Codes mit den 20 Aminosäuren verbunden sind.

Um als Information für die Gestaltung der Proteine zu fungieren, enthalten die Gene einen verschlüsselten Bauplan für Proteine: eine bestimmte Abfolge ihrer vier „Buchstaben“, der Nukleotide A, C, G und T. Diese Abfolge bestimmt die Abfolge von Aminosäuren bei der Bildung von Proteinen. Allerdings ist zu erwähnen, dass die DNA-Buchstaben des Erbgutes nicht direkt zu Proteinen umgesetzt werden, sondern dass eine Abschrift, die Messenger-RNA (mRNA) die Information vom Erbgut im Zellkern zu den Proteinfabriken, den Ribosomen, bringt (sie besitzt U statt T und ist die Abschrift eines Genabschnittes). Jeweils drei Nukleotide auf der mRNA stehen für eine bestimmte Aminosäure (und einige stehen für Start bzw. Stopp). Mit den vier RNA-Buchstaben (Nukleotide A, T, C und U) können durch Dreiergruppen insgesamt 64 verschiedene Kombinationen zusammengestellt werden. Diese sogenannten Tripletts – oder Codons – codieren also die Bausteine der Proteine (die Aminosäuren), wovon es aber nur 20 unterschiedliche in Lebewesen gibt. Es gibt also viel mehr Codons (nämlich 64) als zu codierende Proteinbausteine (20 Aminosäuren). Zusammen mit einem Codon, das als Stoppsignal funktioniert und anzeigt, wo das Protein enden muss, würden die Lebewesen theoretisch nicht mehr als 21 Codons benötigen, um alle beliebigen Proteine codieren zu können. Wozu dienen also die restlichen 43 Kombinationen des Codes?

Da es drei unterschiedliche Stoppsignale gibt, verbleiben 61 Codons, die den Satz von 20 Aminosäuren codieren, so dass viele Aminosäuren durch mehrere unterschiedliche Triplett-Kombinationen codiert sind. Den meisten Aminosäuren entsprechen also mehrere Codons. Die Aminosäuren Serin, Arginin und Leucin werden beispielsweise von jeweils sechs unterschiedlichen Codons codiert. Vier verschiedene Codons stehen jeweils für fünf andere Aminosäuren, nämlich Alanin, Glycin, Prolin, Threonin und Valin. Die übrigen Aminosäuren werden jeweils durch ein Codon, zwei oder drei Codons codiert. Aminosäuren die durch fünf Codons codiert werden, kommen nicht vor. Diese seltsame, ungleiche Verknüpfung von Codons und Aminosäuren war lange Zeit rätselhaft, hat aber damit zu tun, dass sie in verschiedener Hinsicht optimal ist, insbesondere in Bezug auf Fehlertoleranz (Freeland et al. 2000).

In der Fachsprache heißt es, der Proteincode sei ein degenerierter Code. Damit ist nicht gemeint, dass er irgendwie defekt sei, sondern dass eine bestimmte semantische Einheit (hier eine bestimmte Aminosäure) durch mehrere unterschiedliche syntaktische Abfolgen (hier verschiedene Codons) codiert wird. Da es mehrere verschiedene Codons für dieselbe Aminosäure gibt, kann man auch von redundanter Codierung sprechen.

Aufgrund dieser Redundanz gibt es sogenannte synonyme und nicht-synonyme Mutationen. Nicht-synonyme Mutationen verändern mit der Triplett-Codierung auch die Aminosäuresequenz. Da dies die Faltung (3-dimensionale Struktur der Aminosäurekette) und Funktion eines Proteins verändern kann, werden sie als nicht-neutral eingeschätzt. Synonyme Mutationen dagegen verändern zwar ebenfalls die Triplett-Codierung, jedoch nicht die Aminosäuren-Abfolge und damit auch nicht die Funktion des Proteins, da trotz Änderung die gleiche Aminosäure codiert und damit eingebaut wird. Da synonyme Mutationen keinen Einfluss auf die Sequenz und Funktion der Proteine haben, wurden sie stets als neutral betrachtet.

Verhältnis synonymer zu nicht-synonymer Mutationen: Anzeiger für Selektion?

In der Evolutionsbiologie ist das Verhältnis zwischen der Anzahl nicht-synonymer und synonymer Mutationen in homologen (gleichartigen) proteincodierenden Genen verschiedener Organismen ein häufig gebrauchter Parameter. Dieses sogenannte Ka/Ks-Verhältnis (a = nicht-synonym, s = synonym) wird verwendet, um auf die Richtung und das Ausmaß der natürlichen Selektion zu schließen, die auf proteincodierende Gene wirkt. Ein Ka/Ks-Verhältnis von mehr als 1 bedeutet positive Selektion (die Veränderungen vorantreibt); weniger als 1 bedeutet reinigende oder stabilisierende Selektion (die Veränderungen entgegenwirkt); und ein Verhältnis von genau 1 bedeutet neutrale (d. h. keine) Selektion. Viele Tausend Veröffentlichungen auf dem Gebiet der Evolutionsbiologie verwenden diese Methode, die nur unter der Annahme gültig ist, dass synonyme Mutationen (Ks) in proteincodierenden Genen tatsächlich neutral oder nahezu neutral sind.

In der Nature-Veröffentlichung von Juni 2022 wurde nun ein experimenteller Nachweis veröffentlicht, wonach die mit dem Ka/Ks-Verhältnis verbundenen Annahmen möglicherweise nicht korrekt sind, da in repräsentativen Hefegenen auch synonyme Mutationen meist eindeutig nicht-neutral sind (Shen et al. 2022).

Die Experimentatoren der Studie erzeugten mehrere Tausend Hefemutanten, die synonyme und nicht-synonyme Mutationen für 21 Gene mit unterschiedlichen Funktionen und Expressionsniveaus (d. h. wie häufig die Gene abgeschrieben werden) trugen. Anschließend maßen sie die Fitness dieser Mutationen im Vergleich zum Wildtyp. Es zeigte sich, dass 3/4 der synonymen Mutationen unerwartet zu einer signifikanten Verringerung der Fitness (d .h. der Überlebens- und Fortpflanzungsfähigkeit) führten, und „die Verteilung der Fitnesseffekte war insgesamt ähnlich – wenn auch nicht identisch – zwischen synonymen und nicht-synonymen Mutationen“ (Shen et al. 2022). Darüber hinaus fand man heraus, dass synonyme Mutationen häufig die Aktivität des mutierten Gens beeinträchtigen, indem zu viel oder zu wenig mRNA von dem Gen abgeschrieben wurde. Aus dem Ausmaß dieser Störung konnte teilweise der Fitness-Effekt vorausgesagt werden. Außerdem erwies sich die dabei gebildete Boten-RNA (mRNA) als weniger stabil. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass die „starke Nichtneutralität der meisten synonymen Mutationen, falls sie auch für andere Gene und Organismen gilt, eine Überprüfung zahlreicher biologischer Schlussfolgerungen über Mutation, Selektion, effektive Populationsgröße, Divergenz-Zeit und Krankheitsmechanismen, die auf der Annahme beruhen, dass synonyme Mutationen neutral sind, erforderlich machen würde“ (Shen et al. 2022).

Diese experimentelle Arbeit stellt somit ein wichtiges theoretisches Konzept in Frage, nämlich dass synonyme Mutationen in proteincodierenden Genen in jeder Hinsicht neutral sind. Darauf aufbauende evolutionstheoretische Schlussfolgerungen über Selektionswirkung und die anderen im vorigen Zitat genannten Aspekte sind damit ebenso fragwürdig. Das könnte weitreichende Konsequenzen haben. Man wird allerdings abwarten müssen, ob sich die Ergebnisse an weiteren Organismen und Genen bestätigen werden.

Zwei Dinge kann man aus den neuen Befunden jetzt schon lernen: 1. Die Vernetzungen und Zusammenhänge der Vorgänge in den Lebewesen sind viel komplexer als bisher bekannt: Mutationen haben nicht nur Einfluss auf die Abfolge der Aminosäuren der Proteine, sondern können auch andere Aspekte verändern. 2. Einmal mehr zeigt sich: Wissenschaft ist vorläufig, und das kann auch für etablierte Konzepte gelten.

Quellen

Freeland SJ, Knight RD, Landweber LF & Hurst LD LD (2000) Early Fixation of an Optimal Genetic Code. Molecular Biology and Evolution 17, 511–518. https://academic.oup.com/mbe/article/17/4/511/1127636

Podgrebar N (2022) Mutationen torpedieren Lehrmeinung. https://www.scinexx.de/news/medizin/stille-mutationen-sind-doch-schaedlich/

Shen X, Song S, Li X et al. (2022) Synonymous mutations in representative yeast genes are mostly strongly non-neutral. Nature, https://doi.org/10.1038/s41586-022-04823-w

Autor dieser News: Peter Borger

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