News auf genesisnet | |||
27.03.23 Australische DNA in SüdamerikaSeltsame Wege der Migration oder falsche Annahmen über genetische Mutationen? Je tiefer man in die Genetik des Menschen eindringt, umso schwieriger wird es die Geschichte der Menschheit zu rekonstruieren. Statt klarer zu werden, wird sie eher undurchsichtiger. Vor allem die Möglichkeit von genetischen Analysen von DNA, die aus den Knochen von Neandertalern und fossil erhaltenen Denisova-Menschen aus Sibirien isoliert wurden, hat für einen Paradigmenwechsel gesorgt. Neue genetische Funde in alten Knochen von Menschen aus Südamerika werfen weitere Fragen über unsere Herkunft auf. Wie sind die genetischen Fingerabdrücke von Neandertalern, verschiedenen Denisova-Menschen und sogar australischen Signaturen dorthin gelangt? Erfolgte dies durch Migration oder gibt es eine andere Erklärung? Vor dem Aufkommen der sogenannten Paläogenetik glaubte die Mehrheit der Forscher, dass sich Neandertaler nie mit modernen Menschen gekreuzt haben, sondern man sah sie als ausgestorbenen Seitenzweig der Menschheit. Man vermutete, dass sich die Abstammungslinien des modernen Menschen und des Neandertalers vor der Entstehung des heutigen Menschen auseinanderentwickelten (Noonan 2010). Außerdem schienen die frühen paläogenetischen Analysen der mitochondrialen DNA dies zu bestätigen. Diese Ansicht wurde bis zum Jahr 2010 vertreten, als der Paläogenetiker Svante Päböö nachwies, dass moderne Menschen, insbesondere Europäer und Asiaten, einen geringen Anteil an Neandertaler-DNA besitzen. Das bedeutet, dass in Neandertalern Varianten von Genen (Allele) vorhanden sind, die man auch bei heute lebenden Menschen findet. Für die Entwicklung der paläogenetischen DNA-Forschung erhielt Päböö im Jahr 2022 den Nobelpreis für Medizin. Der genetische Beitrag der Neandertaler zum Genpool des modernen Menschen wird heute allgemein vor allem mit Europäern, insbesondere Nordeuropäern, in Verbindung gebracht. Denisova-Menschen hingegen werden im Allgemeinen mit Populationen in Asien verbunden. Zur Überraschung der Biologen wurde jedoch nachgewiesen, dass auch afrikanische Menschen Genvarianten besitzen, die auch bei Neandertalern zu finden sind (Price 2020). Man war nämlich bislang davon ausgegangen, dass die Neandertaler Afrika schon vor längerer Zeit verließen und nie zurückkehrten, um sich mit den zurückgebliebenen Menschen zu vermischen. Sie seien also ihren eigenen evolutionären Weg unabhängig von den afrikanischen Menschen gegangen. Eine ähnliche Überraschung wurde neulich in der DNA von indigenen Völkern Südamerikas aufgedeckt. Eine Gruppe brasilianischer Archäologen und US-amerikanischer Genetiker publizierte ihre Befunde zu der genetischen Abstammung einiger der frühesten Menschen Südamerikas in den Proceedings der Royal Society (Campelo dos Santos 2022). Die Wissenschaftler isolierten DNA aus alten menschlichen Genomen aus mindestens ca. 900 Jahre alten Knochen, die an archäologischen Stätten im Nordosten Brasiliens, Panamas und Uruguays gefunden wurden, und verglichen die Sequenzen mit Genomdatenbanken heutiger und ausgestorbener Menschen. Ursprünglich wollten die Forscher, die an diesen Stätten arbeiteten, die Muster alter Wanderungen auf dem gesamten südamerikanischen Kontinent kartieren. Dabei bestätigte sich, dass die Wanderungen entlang des Kontinents überwiegend von Norden nach Süden verliefen (Micu 2023; Campelo dos santos et al. 2022, Fig. 5). Erstaunlicherweise wies die untersuchte DNA der Menschen aus Südamerika aber darauf hin, dass mehrere Individuen aus Uruguay und Panama offenbar von Denisova-Menschen und von Neandertalern abstammen. Dabei hatten zwei Individuen, die vor ca. 500–700 Jahren gelebt haben (PAPV173 und CH19B; vgl. ebd., Fig. 2), mehr Denisova-Anteile, während bei den anderen südamerikanischen Genomen der Neandertaler-Anteil überwog. Ein höherer Denisova-Anteil kommt auch bei Melanesiern in Südostasien vor: Sie haben ca. 4,8% Denisova-DNA und ca. 2,5 % Neandertaler-DNA (Brandt 2020, 226). Vielleicht teilen sie also einen gewissen Anteil gemeinsamer Vorfahren aus Ostasien, die mehr Denisova-Allele in sich trugen, mit manchen Indianervölkern? Und als ob das noch nicht genug wäre, fanden sie auch noch eine starke australische genetische Signatur in einem ca. 500 Jahre alten Genom aus Panama (Micu 2023; Campelo dos Santos et al. 2022). Es ist das erste Mal, dass Denisovaner und Neandertaler-DNA in alten südamerikanischen Populationen nachgewiesen wurde. Diese Menschen werden daher als „Vorfahren“ interpretiert. Andre Luiz Campelo dos Santos, ein Archäologe an der Florida Atlantic University und Hauptautor der Studie, sagte: „Das Vorhandensein dieser Vorfahren in alten indianischen Genomen kann durch Episoden der Kreuzung zwischen anatomisch modernen Menschen und Neandertalern und Denisova-Menschen erklärt werden, die Jahrtausende vor der Ankunft der ersten menschlichen Gruppen in Amerika über die Beringstraße stattgefunden haben sollten.“ Die Autoren kamen zu dem Schluss, dass diese Befunde Licht auf die komplizierte demografische Geschichte des östlichen Südamerikas wirft und einen Ausgangspunkt für künftige kleinräumige Studien auf regionaler Ebene bietet (Campelo dos Santos et al. 2022). Bringen diese überraschenden Daten wirklich Licht ins Dunkel der menschlichen Geschichte und der Ausbreitung der Menschheit? Die Forscher stellen fest, dass die Ergebnisse unser Verständnis des genetischen Hintergrunds der alten südamerikanischen Völker verkomplizieren (Micu 2023; Campelo dos Santos et al. 2022). Die populärwissenschaftliche Presse kommentierte: „Alte Völker in Südamerika hatten sowohl Denisovaner als auch Neandertaler-DNA – und wir haben keine Ahnung, wie sie dorthin gekommen ist“ (Micu 2023). Abstammung und Kreuzung oder wiederkehrende Mutationen? Haben wir es bei den Menschen aus Südamerika aber wirklich mit alter DNA von Neandertalern und Denisova-Menschen zu tun, oder sogar mit australischer DNA? Könnte es stattdessen sein, dass die Annahme über die zugrunde liegenden Mutationen falsch sind? Den vorgebrachten Schlussfolgerungen der Autoren liegt die Annahme zugrunde, dass Mutationen generell weder vorhersehbar sind noch mit dem Verhalten, dem Lebensstil oder den Umweltbedingungen zusammenhängen. Mutationen sind demnach reine Zufallsereignisse in DNA-Sequenzen. Diese Ansicht wird von Futuyma (2005, 178f) in seinem weltweit verbreiteten Lehrbuch der Evolutionsbiologie wie folgt dargestellt: „Obwohl wir die Wahrscheinlichkeit vorhersagen können, dass eine irgendeine Mutation auftreten wird, können wir nicht vorhersagen, welche von einer großen Anzahl an Genkopien die Mutation durchlaufen wird.“ Nach dem gegenwärtigen Konsens treten alle Mutationen nach dem Zufallsprinzip auf und daher in der Regel nur einmal vor – mit Ausnahme einiger „Hotspots“. Neuere Daten legen jedoch nahe, dass diese allgemeine Annahme falsch ist: Gleichartige Mutationen treten an Hotspots häufig auf und können so eine Illusion von Abstammung hervorrufen (Borger 2019). Dass dies bei den genetischen Befunden der untersuchten Menschen aus Südamerika eine Rolle spielen könnte, geht aus mehreren Beobachtungen hervor. Zunächst einmal weisen die Allele (Erscheinungsformen) der betreffenden Gene in der Regel nur eine Punktmutation auf. Und es handelt sich um Allele, die man auch bei modernen Menschen vorfindet. Die australasiatischen Allele wurden außerdem zuvor auch im Südosten Brasiliens gefunden und sind heute im Volk der Surui (auch bekannt als Paiter) in Amazonien vorhanden (Micu 2023; Campelo dos Santos et al. 2022). Das Vorkommen des australischen Allels in Südamerika lässt vermuten, dass man es möglicherweise mit wiederkehrenden Mutationen zu tun hat. Mit anderen Worten: Sie könnten als genetische Hotspots interpretiert werden, die unabhängig voneinander in verschiedenen Populationen entstanden sind, über Generationen vererbt wurden und heute eine Illusion von Abstammung erzeugen. Die Hotspot-Mutationen können also als Konvergenzen (d. h. als unabhängig vorkommend) verstanden werden, ein Phänomen, das zunehmend in biologischen Systemen zu beobachten ist. Es liegt auf der Hand, dass solche Mutationen nicht nur die Rekonstruktion von Abstammungslinien erschweren oder gar verunmöglichen, sondern auch die Vorstellungen über Migrationsrouten der Menschen über die Erde verzerren. Quellen Borger P (2019) Artübergreifende wiederkehrende Mutationen. Oder: Die Illusion der Verwandtschaft Stud. Integr. J. 26, 77–87. Brandt M (2020) Wie alt ist die Menschheit? Demographie und Steinwerkzeugbefunde mit überraschenden Befunden. 6. erw. Aufl. SCM Hänssler, Holzgerlingen. Campelo dos Santos AL, Owings A, Sullasi HSL, Gokcumen O, DeGiorgioM & Lindo J (2022) Genomic evidence for ancient human migration routes along South America’s Atlantic coast. Proc. R. Soc. B289: 20221078, https://doi.org/10.1098/rspb.2022.1078. Futuyma DJ (2005) Evolutionary Biology, 3rd ed., Sinauer Associates, Sunderland, MA, S. 178–179. Micu A (2023) Ancient peoples in South America had both Denisovan and Neanderthal DNA — and we have no clue how it got there. https://www.zmescience.com/science/south-america-ancient-neanderthal-denisovan-dna-92352342/ Noonan JP (2010) Neanderthal genomics and the evolution of modern humans. Genome Res. 20, 547–553; doi:10.1101/gr.076000.108. Price M (2020) Africans carry surprising amount of Neanderthal DNA. doi: 10.1126/science.abb0984. Autor dieser News: Peter Borger
Über unseren Newsletter-Service werden Ihnen neue Nachrichten auch automatisch per E-Mail zugesandt. | |||
News-Übersicht | |||