29.01.24 Bestehen Stachelhäuter nur aus einem Kopf?
Stachelhäuter wie Seesterne und Seeigel haben einen außergewöhnlichen Bauplan, der sich nur schwer mit den Bauplänen anderer Tierstämme vergleichen lässt. Eine genetische Studie hat nun wohl eine alte Streitfrage geklärt: Haben Stachelhäuter überhaupt ein Kopf? Ja, das haben sie – mehr noch: Sie bestehen fast nur aus einem Kopf – so die Wissenschaftler. Was das für ihren Ursprung bedeuten könnte, wird in diesem Artikel diskutiert. Eine unbedachte Handlung wird gerne als „kopflos“ bezeichnet. Früher dachte man, dass Stachelhäuter, zu denen u. a. Seesterne und Seeigel gehören, tatsächlich kopflos seien. Doch eine aktuelle Studie über das Erbgut von Stachelhäutern kommt zu einem gegenteiligen Ergebnis: Ihr gesamter Körper besteht demnach fast nur aus dem Kopf. Im Laufe der Evolution sollen diese radiärsymmetrischen, zumeist fünfstrahligen Tiere – ausgehend von hypothetischen zweiseitig-symmetrischen (spiegelbildlich konstruierten) Vorfahren – Rumpf und Schwanz verloren haben. Ein Seestern ist demnach ein „ein körperloser Kopf, der auf seinen Lippen über den Meeresboden läuft“ (Lacalli 2023). Sein Mund ist nach unten gerichtet; die Ausscheidung durch den Anus erfolgt nach oben. Die Larven der Stachelhäuter sind anders als die ausgewachsenen Tiere dagegen zweiseitig symmetrisch, was ihre Zugehörigkeit zu den Bilateria („Zweiseitentiere“) begründet. Die fünfstrahlige Symmetrie der Stachelhäuter unterscheidet diese Tiere neben anderen Merkmalen markant von allen anderen Tierstämmen – so sehr, dass es den Anatomen bis heute nicht überzeugend gelungen ist, Entsprechungen der Körperteile der Stachelhäuter bei den Bauplänen anderer Tierstämme herauszufinden. Evolutionstheoretisch formuliert: „Die organisatorischen Veränderungen am Körperbau der ursprünglichen zweiseitig-symmetrischen Deuterostomier (=Neumundtiere)1 während der frühen Stachelhäuter-Evolution waren so tiefgreifend, dass selbst grundlegende Achsenvergleiche mit anderen Deuterostomier-Taxa auf morphologischer Ebene problematisch sind“ (Formery et al. 2023). Kein Wunder also, dass bislang auch ungeklärt war, wo sich denn der Kopf dieser Tiere befindet. Eine Forschergruppe um den Meeres- und Entwicklungsbiologen Christopher Lowe von der Stanford University (Formery et al. 2023) glaubt nun, dieses Rätsel gelöst zu haben. Wie sind sie vorgegangen? Wie immer bei schwierigen Problemen des Verständnisses der Morphologie und Anatomie lag die Hoffnung auf dem Einsatz molekularer Untersuchungen. Die Forscher hatten die Idee, dass dem unverstandenen Körperbau ein äußerlich unsichtbares genetisches Expressionsmuster liegen könnte, also eine Art genetischer Bauplan, gleichsam eine molekulare Achse.2 Die Forscher wurden fündig, als zu verstehen versuchten, welche für die Entwicklung relevanten Gene (sog. Transkriptionsfaktoren (=regulatorische Proteine)) in den Geweben verschiedener Körperteile exprimiert werden (also abgelesen, übersetzt und genutzt werden). Sie kartierten die Expressionsmuster solcher Transkriptionsfaktoren in den Körperachsen des Fledermaus-Seesterns (Patiria miniata; Abb. 442). Dazu nutzten sie die sogenannte RNA-Tomographie, eine Technik, mit der sich feststellen lässt, wo Gene im Gewebe exprimiert werden. Solche Expressionsmuster sind unter den Chordatieren (=Tierstamm, Tiere mit innerem Achsenskelett)* und Hemichordaten (=Kiemenlochtiere) „konserviert“. Dieser evolutionstheoretisch gefärbte Begriff besagt, dass sie sich innerhalb dieser Gruppen nur wenig unterscheiden, was evolutionstheoretisch als Stillstand interpretiert wird, so dass diese Gene gleichsam „konserviert“ sind. Die betreffenden Regulationsgene sind insbesondere mehr konserviert (also weniger verändert) als anatomische Strukturen. Da sie bei Tieren mit sehr verschiedenen Bauplänen vorhanden sind, können sie Tierstamm-übergreifend verglichen werden. Mit der RNA-Tomographie sowie mit in-situ-Hybridisierung gelang es den Forschern, eine dreidimensionale Karte der Genexpression im untersuchten Seestern zu erstellen, aus der hervorgeht, wo bestimmte Gene während der Entwicklung exprimiert werden. Insbesondere kartierten sie die Expression von Genen, die die Entwicklung des Ektoderms steuern, zu dem das Nervensystem und die Haut gehören. Sie untersuchten insgesamt 36 Gene von P. miniata, von denen 20 spezifisch für die vorderen (oberen), mittleren und kaudalen (unteren) Kopfregionen waren und die verschiedenen vorderen Bereichen bei Hemichordaten entsprechen – Teilen des Rüssels und des Halses. Bei der Zuordnung zum Körper von P. miniata-Jungtieren zeigte sich, dass diese Gene in konzentrischen Bereichen auf der mundtragenden Unterseite des Körpers exprimiert werden. Die am weitesten vorne liegenden Gene wurden in der Nähe des Mundes und in der Mitte jedes der fünf Arme des Seesterns entlang der radialen Bereiche (Ambulacra) exprimiert, die vom Mund ausgehen (Abb. 443). Gene, die weiter in der Mitte liegen, wurden in den Rändern der Röhrenfüße exprimiert, die die Ambulacra umgeben. In den Armen der Seesterne finden sich also fast nur Gensignaturen, die bei anderen Tieren mit der Entwicklung eines Kopfes in Verbindung stehen (vgl. Abb. 443). Die Genexpressionsmuster deuten also darauf hin, dass das Muster der Entfaltung entlang der Chordaten-Körperachse dem Entfaltungsmuster in den Armen der Seesterne von innen nach außen entspricht. Dagegen fehlen Gene, die bei Chordatieren den Rumpf spezifizieren (gelb in Abb. 443a), auf der Körperoberfläche weitgehend (außer an den äußersten Spitzen der Arme), ebenso wie der Rumpf als identifizierbare anatomische Struktur fehlt. In einer Meldung des Presseorgans der Standford-University wird das Ergebnis so zusammengefasst (in Übersetzung): „Die Forschung ergab, dass Seesterne ein kopfähnliches Gebiet in der Mitte jedes ‚Arms‘ und eine schwanzähnliche Region entlang des Randes haben. Unerwartet ist, dass kein Teil des Ektoderms der Seesterne ein genetisches Musterungsprogramm für den ‚Rumpf‘ aufweist, was darauf hindeutet, dass Seesterne überwiegend kopfähnlich sind.“3 Diskussion zum Ursprung der Stachelhäuter Ist damit geklärt, wie der extravagante Bauplan der Stachelhäuter ausgehend von zweiseitig symmetrischen Tieren entstanden ist? Die Autoren der Originalarbeit stellen dazu fest, dass ihre Ergebnisse „Anlass zu einer Neuinterpretation der evolutionären Trends“ geben, „die Stachelhäuter zur am weitesten abgeleiteten Tiergruppe gemacht haben“. Es habe sich als schwierig erwiesen, die Entwicklung der Körperbauvariationen zwischen den Stachelhäuterklassen allein anhand morphologischer Merkmale zu rekonstruieren. Dagegen biete ihr Modell ein „leistungsfähiges Werkzeug“, „um robuste regionale Homologien zwischen den Klassen zu ermitteln und einen unabhängigen Datensatz, um bestehende konkurrierende Hypothesen zu testen.“ Die Pressemeldung der Standford-University bemerkt dazu, dass durch die Identifikation ähnlicher Strukturen in verwandten Tiergruppen Hinweise auf die evolutionären Ereignisse gewonnen werden sollen, die das betreffende Merkmal hervorgebracht haben. Der Kommentator in der Wissenschaftszeitschrift Nature (Lacalli 2023) und die Wissenschaftspresse sind dagegen weniger zurückhaltend. Schon die Überschrift des Nature-Kommentars stellt klar: „Eine radikale Umgestaltung des Körperplans erklärt“ (Lacalli 2023; Hervorhebungen hinzugefügt). Das online-Wissenschaftsmagazin scinexx schreibt: „Diese ungewöhnliche Anpassung könnte sich schon sehr früh im Stammbaum der Stachelhäuter entwickelt haben …“, auch wenn die genauen Gründe des Umbaus nicht bekannt sind.4 Der weltweite Nachrichtendienst der American Association for the Advancement of Science (AAAS), EurekAlert, gelangt angesichts der Ergebnisse zur Schlussfolgerung, dass der Bauplan der Stachelhäuter in einer komplexeren Weise evolviert sei als bisher gedacht. Und Lacalli (2023, 485) bringt „evolutionäre Experimentierung“ ins Spiel, die sich bei den ältesten bekannten Stachelhäuter-Fossilien zeige. Kommentar Tatsächlich haben die Forscher nur einen Vergleich von entwicklungsrelevanten Genen durchgeführt und auf diese Weise zweifellos interessante – und unerwartete – Ergebnisse erzielt. Aber über den Modus der Entstehung sagen diese Ergebnisse gar nichts. Es bleibt völlig ungeklärt, wie die hypothetische Umorganisation des Erbguts verlaufen sein könnte, was die Ursache dafür war und wie die enormen Unterschiede im Bauplan genauer damit zusammenhängen. Es ist zwar üblich, Unterschiede im Erbgut als Folge von Evolution anzusehen, aber diese Unterschiede selbst liefern keinerlei Begründung oder Indiz für Veränderungen durch Evolution. Evolutionstheoretisch unverständlich ist auch der Verlust ganzer Körperteile. Welchen Vorteil soll das gebracht haben? Die Autoren der Originalarbeit (Formery et al. 2023) bringen die Vorstellung ins Spiel, dass die räumliche Expression von Genmarkern der Körperachse Ergebnis einer Kooption des angestammten Mustersystems der Körperachse der Chordaten sein könnte, dass dieses System also gleichsam in einen neuen Zusammenhang eingebaut wurde. Sie haben von dieser Idee jedoch Abstand genommen, weil es keinerlei Befunde für die Möglichkeit eines solchen umfangreichen Vorgangs gibt. Die gewaltigen Änderungen beim Stachelhäuter-Bauplan als „Anpassung“ zu bezeichnen (so scinexx, s. o.), gehört zum üblichen, aber irreführenden evolutionstheoretischen Sprachgebrauch, der eine Entstehung durch Selektion suggeriert. Doch ein derart radikal neuer Bauplan ist weit mehr als nur eine Anpassung; dieser Begriff ist als Beschreibung für den hypothetischen Umbau völlig unangemessen. Die Schlussfolgerung von EurekAlert, dass der Bauplan der Stachelhäuter in einer komplexeren Weise evolviert sei als bisher gedacht, ist wie der Begriff „Anpassung“ evolutionstheoretische Verschleierung eines unverstandenen (hypothetischen) Prozesses. Was soll „komplexere Weise“ hier bedeuten? Das wird nicht ausgeführt. Auch der in jüngerer Zeit in Ursprungsfragen immer wieder verwendete Begriff „Experimentierung“ verschleiert Unverstandenes, anstatt eine Erklärung zu liefern. Die „radikale Umgestaltung“ des Körperplans ist aus evolutionstheoretischer Sicht also nicht erklärt, und die neuen, durchaus spannenden Ergebnisse tragen zur Erklärung nichts bei, außer dass einige der bisherigen spekulativen Hypothesen aus dem Rennen ausscheiden. Aus der Sicht der Schöpfungslehre Aus der Schöpfungsperspektive können auch nur Mutmaßungen geäußert werden. „Schöpfung“ bedeutet, dass der Ursprung – hier der Stachelhäuter – vorrangig durch eine kreative Handlung zu erklären ist. Die Frage nach natürlichen Mechanismen, die ausschließlich den betreffenden Naturgegenstand hervorgebracht haben müssten, erübrigt sich hier. Es kann nur darum gehen, die vorhandenen Befunde verständlich zu machen. Die Ergebnisse von Formery et al. (2023) lassen sich gut verstehen, wenn man von einer freien Verfügbarkeit genetischer Module (hier von Transkriptionsfaktoren, die entwicklungsbiologisch relevant sind) auszugehen. Das kann aber nur im Rahmen von „Schöpfung“ angenommen werden. Anmerkungen und Originalzitate 1 Zu den Deuterostomiern („Neumundtiere“) gehören diejenigen Tiergruppen, bei deren Mitgliedern der embryonale Urmund während der Individualentwicklung zum After wird, während sich die vordere Körperöffnung neu bildet. 2 news.stanford (in Übersetzung): „Das Team verwendete eine Gruppe gut untersuchter molekularer Marker (z. B. Hox-Gene), die als Baupläne für den Körperplan eines Organismus dienen, indem sie jeder Zelle „sagen“, zu welcher Körperregion sie gehört. Gibt es eine molekulare Achse, die sich unter all dieser seltsamen Anatomie verbirgt, und welche Rolle spielt sie bei der Bildung des fünfflächigen Körperbaus eines Seesterns?" 3 https://news.stanford.edu/2023/11/01/study-reveals-location-starfishs-head/ 4 https://www.scinexx.de/news/biowissen/seesterne-sind-wandelnde-koepfe/ Quellen Lacalli T (2023) A radical body-plan makeover explained. Nature 623, 485–486. Formery L, Peluso P, Kohnle I, Malnick J, Pitel M, Uhlinger KR, Rokhsar D, Rank D & Lowe CJ (2023) Molecular evidence of anteroposterior patterning in adult echinoderms. Nature 623, 555–561. Autor dieser News: Reinhard Junker Informationen über den Autor
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