07.06.24 Pflanzen als „Mathematiker“
Dass Pflanzen „rechnen“ können und dabei den Dreisatz umsetzen, ist schon länger bekannt. Sie nutzen diese Fähigkeit zum Beispiel, um den Umgang mit Stärkevorräten zu kalkulieren. Doch sie können noch weitaus anspruchsvollere mathematische Aufgaben „lösen“, wie jüngst ein Forscherteam aus Israel herausgefunden hat. Schüler lernen bei uns in der 5. Klasse den Dreisatz im Mathematik-Unterricht. Zum Beispiel: Wenn ich 40 Pralinen habe und pro Tag vier Stück esse, reichen sie 10 Tage. Wie langen reichen sie aus, wenn ich nur zwei pro Tag esse? Was Fünftklässler beherrschen müssen, können auch manche Pflanzen, zum Beispiel die im April blühende Acker-Schmalwand (Arabidopsis thaliana, Abb. 453). Diese Pflanze blüht häufig an Straßenrändern und auch ist ein Lieblingsobjekt der Pflanzengenetiker. Übrigens war die Acker-Schmalwand die erste Pflanze, deren gesamtes Erbgut (Genom) vollständig sequenziert wurde – und zwar im Jahr 2000. Schon lange ist bekannt, dass Pflanzen auf Reize wie Licht, Wind, Feuchtigkeit und Schwerkraft reagieren können – und das ganz ohne Gehirn und Nervensystem. Um diese Fähigkeiten feststellen zu können, muss man in manchen Fällen nicht einmal Wissenschaftler sein. Es genügt, Pflanzen im Tagesverlauf zu beobachten, um zu bemerken, dass sich manche Blüten bei Regen oder Kälte schließen, um sich bei sonnigem Wetter wieder zu öffnen. Erforderlich ist für solche angepassten Bewegungen ein Regelkreis-System. Man kann darin ein Schöpfungsindiz erkennen, denn ein Regelkreis benötigt anspruchsvolle Fähigkeiten – und zwar gleichzeitig –, um messen, vergleichen und bei Bedarf reagieren zu können. Außerdem müssen (in diesem Fall witterungsabhängige) Sollwerte vorgegeben sein. Funktioniert ein Teil nicht oder fehlt die Sollwert-Vorgabe, ist der Regelkreis unbrauchbar. Die Acker-Schmalwand hat sogar Fähigkeiten auf Lager, die darauf schließen lassen, dass sie den Dreisatz umsetzt. Dies wurde vor einigen Jahren von britischen Wissenschaftlern beschrieben (Scialdone et al. 2013). Tagsüber nutzt sie wie andere Pflanzen die Sonnenenergie, um mittels Photosynthese aus Kohlendioxid und Wasser die Energieträger Glukose bzw. Stärke (eine lange Zuckerkette) zu synthetisieren. Nachts muss dieser Betrieb mangels Licht stillgelegt werden, und der Stoffwechsel der Pflanze verlangsamt sich. Ganz ohne Stoffwechsel kommt die Pflanze aber nicht aus und schaltet daher auf die Nutzung ihrer gespeicherten Stärkereserven um. Die Forscher maßen den nächtlichen Rückgang der Stärke in den Blättern der Pflanze und stellten überrascht fest, dass die Stärkereserven fast genau bis zur Morgendämmerung ausreichten. Wenn die Dunkelheit im Labor künstlich verlängert oder verkürzt wurde, was den Stärkeverbrauch der Pflanze störte, reagierte die Pflanze nach einigen Tagen, indem sie ihre Stärkereserven entsprechend langsamer oder schneller verbrauchte. Die Pflanze kann also die Menge der gespeicherten Stärke (S) und die Dauer der Dunkelheit (T) messen. Die Geschwindigkeit des Stärkeverbrauchs wird dann durch das Verhältnis S/T bestimmt, wobei die Zeit T von der internen Uhr der Pflanze gemessen wird (circadiane Rhythmik). Die Pflanze löst somit einen Dreisatz. Offensichtlich laufen in den Pflanzenzellen bemerkenswerte – und bisher im Einzelnen nicht verstandene – molekulare Prozesse ab, die genau das ermöglichen. Doch Pflanzen können noch mehr und sind sogar in der Lage, Reize auf verschiedenen Zeitskalen zu addieren und zu subtrahieren. Dabei geht es um Folgendes: Pflanzentriebe vollziehen kreisende Wachstumsbewegungen und reagieren dabei nicht sofort auf Änderungen von Reizen wie Licht, Temperatur oder Gravitation, sondern auf die integrierte Gesamtheit von vergangenen und gegenwärtigen Stimuli. Diese Fähigkeit der Erfassung und Bewertung einer integrierten Gesamtheit verschiedener Reize und ihrer Dauer ist der anspruchsvollste Aspekt bei der Konstruktion von Regelkreisen. Jüngst untersuchten Mathieu Rivièrea und Yasmine Meroza von der Universität Tel Aviv das Wachstumsverhalten von Koleoptilen von Weizenkeimlingen (Rivièrea & Meroza 2023). Die Koleoptile (Kleimblattscheide; s. Abb. 454) ist ein Schutzorgan für das erste aufgehende Blatt bei Süßgräsern (Poaceae), zu denen auch die Getreidearten gehören. Sie reagiert auf Lichtreize und Schwerkraft. Letztere Reaktion nennt man Gravitropismus. Um sensorische Informationen im Laufe der Zeit zu quantifizieren und zu integrieren, müssen in den Pflanzen komplexe Rechenprozesse ablaufen. Dabei werden auch frühere Reize verrechnet, so dass die Koleoptilen auf Unterschiede zwischen den Reizen über verschiedene Zeitskalen hinweg reagieren; sie ermitteln sowohl die Summe als auch die Differenz von Reizen aus ihrer Umwelt. Über eine Subtraktion von Reizen war bislang bei Pflanzen noch nie berichtet worden, so die beiden Autoren. Reizsubtraktion dient dazu, Signale im Zeitverlauf vergleichen zu können – eine Strategie, die von einer Vielzahl von Lebewesen verwendet wird, um Signalgradienten zu erkennen und zu verstärken. Auf diese Weise können Pflanzen „Gedächtnis“ und Bewegung kombinieren, um die Bewegungskontrolle und die Wahrnehmungsfähigkeiten angesichts schwacher Signale und schwankender Umgebungen zu verbessern – eine Fähigkeit, die allgemein bei Pflanzen vorhanden sein könnte, wie die Autoren vermuten: „Diese Ergebnisse liefern den quantitativen Beweis dafür, dass Koleoptile nicht nur auf die Summe der Reize reagieren, … sondern auch auf die Unterschiede zwischen den Reizen auf verschiedenen Zeitskalen. Letzteres deutet darauf hin, dass Pflanzen in der Lage sind, Signale zu vergleichen – eine entscheidende Fähigkeit bei Suchprozessen“ (Rivièrea & Meroza 2023, 1). Solche anspruchsvollen mathematischen Verfahren bei Pflanzen kann man eigentlich nur erwarten und verstehen, wenn sie einen kreativen Ursprung haben. Blinde Naturprozesse, die auf im Wesentlichen zufälligen Erbgutänderungen (Mutationen) und Auslese (Selektion) basieren, verstehen nichts von Mathematik. Sie können nicht in die Zukunft schauen: Immerhin wirkt ein so komplexer Regelkreislauf nur sinnvoll im Netzwerk ganz verschiedener Gene für die Herstellung der benötigten molekularen Maschinen (Proteine bzw. Enzyme) für Mess- und Regelfunktionen – Mutationen hingegen betreffen zufällige genetische Buchstaben (Nukleotide). Nicht umsonst braucht es Geduld, didaktisches Geschick und Übung, Schülern weitaus einfachere mathematische Verfahren beizubringen als diejenigen, die Pflanzen offenbar „beherrschen“ – wenn auch sicher nicht im mathematisch-abstrakten oder bewusste Sinn wie wir Menschen. Literatur Riviere M & Meroz Y (2023) Plants sum and subtract stimuli over different timescales. PNAS 120, e2306655120. Scialdone A et al. (2013) Arabidopsis plants perform arithmetic division to prevent starvation at night. eLife 2, e00669. Autor dieser News: Reinhard Junker Informationen über den Autor
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