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20.01.25  Das neue Verständnis von innovativer Evolution

Nach der konventionellen Sicht erfolgt Evolution kleinschrittig durch selektive Begünstigung vorteilhafter zufälliger Mutationen, durch Gendrift und durch geographische Trennung von Populationen (Darwin‘scher Mechanismus). Es hat sich jedoch entgegen den evolutionstheoretisch motivierten Erwartungen herausgestellt, dass die verschiedenen Tierstämme sehr ähnliche Regulationsgene und Signalübertragungswege nutzen. Im vorliegenden Beitrag wird erläutert, warum dieser Befund dem Darwin’schen Gradualismus widerspricht und welche alternativen Evolutionsmechanismen vorgeschlagen werden. Kann damit das Problem der innovativen Evolution gelöst werden?

„Der Ursprung neuartiger komplexer Merkmale ist eine zentrale, aber weitgehend ungelöste Herausforderung in der Evolutionsbiologie.“[1] Mit diesem Satz beginnt Armin Moczek (2023) einen Überblicksartikel zu aktuellen Vorstellungen darüber, wie innovative Evolution funktionieren soll. Ist diese Frage nicht schon längst geklärt? Ist nicht schon seit Langem klar, dass Mutation und Selektion die beiden „großen Konstrukteure des Artenwandels“ (Lorenz 1964) sind? In den letzten Jahren wurden immer wieder kritische Stimmen laut, die der Standarderklärung von Evolution (Synthetische Evolutionstheorie) widersprechen (z. B. Müller & Newman 2003; Fodor & Piattelli-Palmarini 2010; Nagel 2013; Laland et al. 2014; Corning et al. 2023). Moczek (2023, 434) formuliert dazu eine Einschätzung, die sinngemäß auch seit vielen Jahren von Befürwortern der Schöpfungslehre geäußert wurde:

„Von den vier konventionell anerkannten evolutionären Prozessen (natürliche Selektion, genetische Drift, Migration und Mutation) können die ersten drei nur bestehende Varianten und deren Verteilung innerhalb und zwischen Populationen beeinflussen, aber selbst keine neuen Merkmale hervorbringen. Dieses Privileg ist stattdessen auf die Mutation beschränkt; doch haben sich Versuche, die Entwicklung neuer komplexer Merkmale allein durch die zufällige Entstehung, Verbreitung und Fixierung jeweils einer günstigen Mutation zu erklären, als weitgehend erfolglos erwiesen. Nicht, dass die Variation durch Mutation irrelevant wäre, aber in den Worten von Fox Keller (2010) haben sich Gene und genetische Varianten in erster Linie als differenzbildende Faktoren herauskristallisiert, Faktoren, die zur Variation von Merkmalen beitragen, aber allein nicht ausreichen, um Merkmale zu erzeugen.“[2]

Er geht noch weiter mit der Bemerkung, dass die Populationsgenetik nicht einmal in der Lage sei, die Frage nach den Mechanismen der evolutiven Entstehung von Neuheiten zu stellen (S. 434). Das hört sich so an, als wüssten Biologen immer noch nicht, wie innovative Evolution (Makroevolution) funktioniert. Die konventionelle Erklärung für Evolution ist jedenfalls nach Moczek für die Erklärung der Entstehung von Neuheiten nicht tauglich.

Natürlich publiziert kein Evolutionsbiologe eine solche pessimistische Einschätzung, ohne eine Lösung anzubieten. Aber wenn Mutation, Selektion und Gendrift nicht die treibenden Kräfte sind, was ist es an ihrer Stelle? Moczek ist der Auffassung, dass neue Erkenntnisse aus der vergleichenden Entwicklungsbiologie (individuelle Entwicklungen der Lebewesen) und Erkenntnisse über den Zusammenhang von Entwicklungsbiologie und Ökologie zum Verständnis beitragen. Entsprechend formuliert er zwei Hauptziele seiner Ausführungen: Erstens will er zeigen, dass die Natur der Entwicklungssysteme unter neuartigen oder stressenden Umweltbedingungen die Entstehung funktioneller und angepasster Varianten begünstigt. Mit „Entwicklungssystemen“ sind Vorgänge während der individuellen Entwicklung gemeint, also der Ontogenese. Die Entstehung neuartiger Phänotypen (Erscheinungsbild) gehe den Veränderungen des Genotyps (Erbgut) voraus – und nicht umgekehrt wie nach dem Darwin’schen Mechanismus. Und zweitens möchte er untersuchen, wie sich die Natur von Entwicklungssystemen selbst im Laufe der Zeit weiterentwickelt hat. Die Idee, dass die ontogenetischen Entwicklungsprozesse durch äußere (Umwelt) und innere Stressfaktoren wandelbar sind, ist dabei nicht neu. Sie wurde ausführlich zum Beispiel von West-Eberhard (2003) thematisiert (vgl. die Darstellung bei Junker 2008, Abschnitt 3.3). Moczek (2023) bringt dazu eine aktuelle Darstellung, die hier zum Anlass genommen werden soll, die neueren Ideen zu möglichen Mechanismen innovativer Evolution darzustellen und kritisch zu kommentieren.

Was sind evolutionäre Neuheiten?

Die Schwierigkeiten einer alternativen Erklärung innovativer Evolution beginnen schon damit, dass nach wie vor kein Konsens darin besteht, wie man überhaupt „evolutionäre Neuheit“ definieren könnte. Nach einem viel zitierten Vorschlag (Müller & Wagner 1991) zeichnet eine morphologische Neuheit aus, dass sie nicht mit einer anderen Struktur homologisiert werden kann. Mit „Homologie“ ist gemeint, dass beim Vergleich von Strukturen verschiedener Arten eine Bauplanähnlichkeit vorliegt, die evolutionstheoretisch auf gemeinsame Vorfahren zurückgeführt werden kann. Das Fehlen einer Homologie setzt folglich eine Diskontinuität zu anderen Strukturen voraus. Eine morphologische Neuheit weist auch eine neue Funktion auf.

Homologie und Nicht-Homologie

An dieser Stelle stoßen die Biologen aber auf das nächste Problem: die Abgrenzung von Homologie und Nicht-Homologie. Es hat sich nämlich herausgestellt, dass morphologische und entwicklungsgenetische Homologien oft nicht zusammenpassen. Hochrangige Regulationsgene von Organen verschiedener Tierstämme sind verbreitet homolog, nicht aber der Bau der betreffenden Organe. So sind das Linsenauge von Wirbeltieren und das Komplexauge von Gliederfüßern ganz verschieden gebaut und somit morphologisch nicht homolog. Sie teilen aber sehr ähnliche und somit homologe Regulationsgene, die in den jeweiligen Ontogenesen aktiviert werden – ein sehr überraschender Befund. Aber auch der umgekehrte Fall kommt nicht selten vor: Strukturen, die auf der Ebene der Morphologie homolog sind, entstehen ontogenetisch unter Mitwirkung nicht-homologer Entwicklungswege und nicht-homologer Gene. „Wo genau die Homologie aufhört und die Neuheit beginnt, wurde somit immer schwieriger zu bestimmen“ (Moczek 2023, 434).

Damit wurde klar, dass die außerordentliche morphologische Verschiedenartigkeit der Tierstämme und -klassen nicht mit entsprechenden Unterschieden von Regulationsgenen und Entwicklungswegen einhergeht. „So stellen beispielsweise die Augen von Wirbeltieren, Insekten, Weichtieren und Quallen unabhängig voneinander entwickelte, nicht homologe Strukturen dar, die jedoch alle in der Ontogenese auf denselben Satz homologer Transkriptionsfaktoren, Opsinproteine, Zelltypen und neuronaler Schaltkreise beruhen“ (S. 434). Bei anderen Organsystemen wird eine ähnliche Situation angetroffen.

Folgen für das Verständnis von Evolution

Diese völlig unerwarteten Entdeckungen haben Folgen für das Verständnis von Evolution. Nach der konventionellen Sicht von kleinschrittigen Veränderungen durch zufällige Mutationen, Selektion und Gendrift war nicht erwartet worden, dass bei Tierstämmen mit ganz verschiedenen Organsystemen (wie Linsen- und Komplexauge) sehr ähnliche Regulationsgene vorliegen. Der Evolutionsprozess müsste eigentlich nach dem Darwin’schen Mechanismus ganz anders verlaufen: homologe Organe mit homologen Genen, nicht-homologe Organe mit nicht-homologen Genen. Da die sehr verschiedenen Tierstämme überraschenderweise vielfach sehr ähnliche Regulationsgene besitzen, muss evolutionstheoretisch angenommen werden, dass im gemeinsamen Vorfahren diese Regulationsgene bereits vorhanden waren. Die entsprechenden Organe konnten bei diesem Vorfahren noch nicht ausgebildet gewesen sein, da man z. B. Komplexauge und Linsenauge wegen ihres grundverschiedenen Baus nicht auf ein Vorläuferauge zurückführen kann bzw. allenfalls auf ein sehr einfach gebautes Auge. Dasselbe gilt für Gliedmaßen und andere Organsysteme. Das Innenskelett von Gliedmaßen der Wirbeltiere und das Außenskelett von Gliederfüßern lassen sich kaum evolutionär auf gemeinsame Gliedmaßenvorläufer zurückführen. Somit mussten die dennoch gemeinsamen Regulationsgene ursprünglich andere Aufgaben als heute erfüllt haben. Der hypothetische gemeinsame Vorfahr müsste relativ einfach gebaut gewesen sein, so dass er zum Beispiel ein Startpunkt für Linsenaugen und für Komplexaugen oder für ein Innenskelett und ein Außenskelett sein konnte.

Mit dieser Erkenntnis der starken genetischen Ähnlichkeit trotz unterschiedlichen Bauplänen kristallisierte sich die Vorstellung heraus, dass Evolution neuer Organe durch unterschiedliche Verschaltungen bzw. Neuzusammensetzungen derselben schon vorhandenen Gene, Signalübertragungswege und Zelltypen erfolgte. In den Worten von Moczek (2023, 434): „Dieselben Gene, zellulären Transduktionswege, Zelltypen und morphogenetischen Prozesse konnten dazu beitragen, eine breite Palette sowohl sehr ähnlicher als auch sehr unterschiedlicher Arten von Merkmalen in entfernt verwandten Organismen zu bilden.“[3] Auf diese Weise sollen Schlüsseleigenschaften der Entwicklung in der Evolution unabhängig voneinander neu eingesetzt worden sein. „Vielfalt wird also nicht trotz, sondern wegen der tiefgreifenden Erhaltung von Entwicklungsprozessen möglich, die durch die modulare und kombinatorische Natur der Entwicklung erleichtert wird“ (S. 435).[4]

Die Mechanismen der Regulation sind selbst hochgradig modular und laufen auf mehreren Ebenen ab. Auf zellulären Signalübertragungswegen werden beispielsweise zellexterne Signale in Signale umgewandelt, die in den Zellkern geleitet werden und dort die Genexpression (Ablesung von Genen) beeinflussen. Diese Signalübertragungswege sind Tierstamm-übergreifend einerseits sehr ähnlich – evolutionstheoretisch wird das als „konserviert“ bezeichnet –, andererseits aber zugleich flexibel bezüglich der Signale, auf die sie reagieren, und die Ergebnisse, die sie ermöglichen. „Folglich reicht eine sehr bescheidene Anzahl von Transduktionswegen aus, um eine außerordentliche Vielfalt von regulatorischen Entscheidungen zu modulieren“ (Moczek 2023, 435).[5]

Dazu kommt außerdem die Fähigkeit der Lebewesen, passend und unterschiedlich auf Umweltreize reagieren zu können. Diese faszinierende Eigenschaft der Lebewesen ist seit langem bekannt und wird als Plastizität bezeichnet: „Entwicklungsprozesse sind in hohem Maße kontextabhängig“ (Moczek 2023, 435).

Inwiefern ermöglichen „Konservierung“ und Kontextabhängigkeit innovative Evolution?

Kontextabhängigkeit und Plastizität von ontogenetischen Entwicklungsvorgängen sind ausgesprochen anspruchsvolle Fähigkeiten, die den Lebewesen die nötige Flexibilität und Robustheit verleihen, um mit unterschiedlichen Umweltbedingungen klarzukommen und Störungen in einem gewissen Rahmen ausgleichen zu können. So gesehen kann man diese Eigenschaften sehr gut als Indizien dafür werten, dass vorausgedacht wurde, um die Lebewesen für veränderliche Umweltbedingungen und auf Störungen auszurüsten. Aber besteht hier ein Zusammenhang mit innovativer Evolution? Hier wird es spekulativ. Moczek bezieht sich auf das bekannte Phänomen, dass sich Muskeln, Nerven und Blutgefäße ontogenetisch nicht nach einem starren Plan ausbilden, sondern in Abhängigkeit vom Kontext, z. B. von der gleichzeitigen Bildung der Knochen und der anderen Gewebe[6] – erneut eine geniale Fähigkeit. Die Entwicklungsprozesse sind also durch wechselseitige, kontextabhängige Interaktionen miteinander verbunden, was zur Robustheit und Resilienz gegenüber Störungen beiträgt. Kirschner & Gerhart (2005) haben diese Fähigkeit in ihrem Buch „The plausibility of life“ ausführlich beschrieben (s. die Rezension des Buches: Junker 2006).

Die Kontextabhängigkeit der Entwicklungsprozesse eröffnet nun nach Moczek (2023, 436) die Möglichkeit, „dass Innovationen in der Evolution durch die sich selbst konstruierende und anpassende Natur der Entwicklung auf eine Art und Weise geformt werden, die anfänglich keine genotypischen Veränderungen erfordert.“ Später könnten diese Veränderungen dann durch genetische Änderungen stabilisiert werden. Als Schlussfolgerung formuliert der Autor (S. 437): „Während Entwicklungssysteme Phänotypen konstruieren, verändern sie ihre eigenen Fähigkeiten, zukünftige Phänotypen zu bilden, auf interne und externe Inputs zu reagieren und angesichts von Störungen Resilienz zu zeigen. Ebenso zeigt sich die Evolution von Entwicklungssystemen als ein Prozess, der sein eigenes Repertoire und den erreichbaren Phänotypraum konsequent modifiziert hat.“[7] Das klingt sehr deutlich nach Selbsterschaffung. Woher wissen Organismen, wie sie mithilfe der „sich selbst konstruierenden und anpassenden Natur der Entwicklung“ Innovationen erzeugen können und welche konkreten Innovationen überhaupt erzeugt werden sollen? Wie „verändern sie ihre eigenen Fähigkeiten, zukünftige Phänotypen zu bilden“? Hier kommt in großem Umfang teleologisches Denken zum Einsatz, das im Rahmen naturalistischer Konzepte jedoch ausgeschlossen wird.

Kritik

Die Befunde aus Entwicklungsbiologie und Genetik, die Moczek diskutiert, bedeuten für die konventionelle Erklärung von Evolution im Grunde genommen das Aus, sofern damit evolutionäre Innovationen erklärt werden sollen. Wenn innovative Evolution durch Neuverschaltungen alter, „konservierter“ Gene und Signalwege erfolgt, dann sind die zahlreichen geringfügigen Änderungen, die Darwin annahm, nicht die wesentliche Quelle von neuen komplexen Strukturen. Wie gut aber ist die neue Konzeption experimentell begründet?

1. Innovative Evolution durch Plastizität und Neuverschaltungen ist im Wesentlichen hypothetisch. Die Idee lautet: Teile eines „uralten Entwicklungswerkzeugkastens“ wurden immer wieder unabhängig voneinander in sehr unterschiedlichen Abstammungslinien verwendet, zum Beispiel um die Bildung verschiedener Arten von Auswüchsen, Gliedmaßen und Anhängseln zu ermöglichen (nach Moczek 2019, 67).[8] Moczek (2019, 68) spricht unter Bezugnahme auf das bekannte Kinderspielzeug von „Lego-Analogie der organismischen Entwicklung und Evolution“: „Neue Merkmale und Funktionen können mit Leichtigkeit entstehen, indem man alte Bausteine an neue Stellen setzt.“[9] Es müssten keine neuen Module eingeführt werden, da die erforderlichen Komponenten bereits vorhanden seien (!); es ändere sich lediglich die Art der Interaktion zwischen ihnen (Moczek 2019, 70).[10]

Als Beispiel für evolutionäre Innovation aufgrund der plastischen Natur und Kontextabhängigkeit der ontogenetischen Entwicklungsvorgänge zitiert Moczek Versuche am Flösselhecht Polypterus (Abb. 475). Forscher ließen diese lungenatmenden Fische an Land aufwachsen (Standen et al. 2014). In der ungewohnten Umgebung zeigten diese als plastische Reaktion veränderte Verhaltensweisen und Änderungen im Bau einiger Knochen, die auf dem Land eine Verbesserung der Fortbewegung ermöglichen. Als Beleg dafür, dass auf diese Weise eine evolutionäre Neuheit entstehen kann, werten Standen et al. (2014, 54) ihre Ergebnisse jedoch nicht, sondern schreiben zurückhaltend: „Unsere Resultate eröffnen die Möglichkeit, dass umweltinduzierte Entwicklungs-Plastizität die Entstehung der Land-Merkmale, die zu den Vierbeiner führten, erleichtert haben“ (Hervorhebung hinzugefügt). Junker (2014) hat eine Reihe von Argumenten zusammengetragen, warum diese Versuche keine Schlussfolgerung auf innovative Evolution erlauben.

Als weiteres Beispiel erwähnt Moczek Versuche an Kaulquappen, die je nach vorherrschendem Nahrungsangebot (zerfallene organische Substanzen oder kleine Krebse) unterschiedliche Gestaltstypen (sog. Morphen) ausbilden (Ledon-Rettig et al. 2008; 2010; vgl. Abb. 476). Die Autoren schlussfolgern, dass ihre Ergebnisse darauf hindeuten, dass latente genetische Variationen den evolutionären Übergang zur fleischfressenden Ernährung bei Kaulquappen der Gattung Spea ermöglicht haben könnten.[11] Wenn die Varianten aber bereits latent vorhanden waren, wird die ursprüngliche Entstehung der Morphen durch die Versuche mit den Kaulquappen somit nicht erklärt (vgl. auch Junker 2010b).

Die Vorstellung, dass durch die plastische Natur und Kontextabhängigkeit der ontogenetischen Entwicklungsvorgänge und durch Neuverschaltungen vorhandener genetischer Elemente, ausgehend von einfach gebauten Vorläufern, die enorme Verschiedenartigkeit der Tierstämme entstanden ist, wird durch solche Versuche nicht unterstützt. Gegenüber den – latent vorhandenen – vergleichsweise geringen Unterschieden in den Gestaltsausprägungen sind die enormen Bauplanunterschiede der Tierstämme und -klassen (die im Kambrium in der Regel fossil abrupt und ohne jegliche Vorläufer auftauchen, vgl. Junker 2014b) qualitativ auf einem ganz anderen Level.

Die Wiederverwendung und Neuverschaltung von Genen und Bausteinen wird dargestellt, als sei das ein Kinderspiel (siehe die Zitate aus Moczek [2019] eingangs dieses Abschnitts). Tatsächlich müsste aber gezeigt werden, dass das in nicht-trivialen Fällen tatsächlich funktioniert. Wie kann es sein, dass die „Bausteine“ so gestaltet sind, dass sie leicht zu ganz verschiedenen Strukturen zusammengesetzt werden können? Wenn schon die „Lego-Analogie“ bemüht wird: Eine solche Analogie wäre ein Beleg für Planung (nach dem Plug-and-Play-Prinzip). Moczek (2019, 67) schreibt: „Es gibt vielleicht tatsächlich nur einen Weg, die proximal-distale Identität in der Entwicklung zu spezifizieren [gemeint sind Unterschiede körpernah – körperfern], aber wenn eine Abstammungslinie jemals diese Fähigkeit in einem neuen Kontext hinzufügen müsste, wäre sie bereits mit einem bereits existierenden Entwicklungsinstrumentarium ausgestattet, das genau das leisten könnte.“[12] Das ist höchst erstaunlich: Die erforderlichen Teile sind schon vorbereitet und liegen für den Einbau bereit. Wenn das nicht gut geplant ist!

2. Evolution wird vorausgesetzt. Als Begründung für die rein hypothetischen Prozesse werden die Ergebnisse der vergleichenden Biologie herangezogen. Viele Durchbrüche beim Verständnis der Entstehung neuer komplexer Merkmale seien nicht in der Evolutionsbiologie selbst erzielt worden, sondern durch die vergleichende Untersuchung der Entwicklung, stellt Moczek (2023, 434) fest.[13] Vergleichende Biologie ermöglicht jedoch keine Erklärungen der Mechanismen, sondern beobachtet nur Ähnlichkeiten. Es hat sich in der Evolutionsbiologie der Fehlschluss eingebürgert, aus vergleichenden Befunden auf die Existenz von Mechanismen zu schließen, die diese Befunde erklären. Doch dabei handelt es sich um einen Zirkelschluss. Denn dieser Schluss beruht auf der Voraussetzung, dass innovative Evolution tatsächlich abgelaufen ist. Der Fehlschluss lautet formalisiert:

Prämisse: Evolution ist abgelaufen.

Beobachtung: Tierstämme unterscheiden sich morphologisch sehr stark, in Bezug auf Regulationsgene und Signalübertragungswege dagegen nur wenig.

Folgerung 1: Evolution ist nicht Folge vieler Punktmutationen und Auslese oder Gendrift.

Folgerung 2: Evolution erfolgt durch Neuverschaltungen der den Tierstämmen gemeinsamen Gene und Regulationsprozessen.

Auch in anderer Hinsicht zeigt sich, dass Evolution vorausgesetzt wird: Es wird nämlich einfach behauptet, dass die Entwicklungsprozesse, die Plastizität, Kontextabhängigkeit und Neuverschaltungen ermöglichen, das Produkt vergangener Evolution seien (Moczek 2023, 433).[14]

„Die Ausrichtung der Entwicklung bei der Evolvierbarkeit ist natürlich selbst eine evolvierte Eigenschaft, die nicht mit einem Schlag entstanden ist …“ (S. 436).[15] Wie aber diese anspruchsvollen ontogenetischen Prozesse aufgebaut wurden, ist völlig unklar. Diese Mechanismen, die innovative Evolution erst ermöglichen sollen, mussten zuvor ohne diese Mechanismen, also wohl konventionell (neo-)darwinistisch, aufgebaut worden sein. Es ist aber selbstwidersprüchlich, wenn die konventionellen Evolutionsmechanismen einerseits als unzureichend für innovative Evolution angesehen werden, andererseits in der Lage gewesen sein sollen, anspruchsvolle Variations- und Anpassungsprogramme hervorzubringen, die innovative Evolution ermöglichen sollen. Letzteres ist schließlich schwieriger, als fixe Merkmale hervorzubringen.

3. Versteckte Teleologie.Es wurde bereits darauf hingewiesen: Wie in vielen anderen Beiträgen über neue Ansätze für Erklärungen innovativer Evolution finden sich auch bei Moczek (2019; 2023) teleologische Formulierungen. Das sind Aussagen, die eine Zielorientierung beinhalten oder voraussetzen, die es in rein naturgesetzlich-evolutionären Erklärungen aber gar nicht geben darf. Denn es wird seit Darwin der Anspruch gestellt, Evolution ausschließlich auf der Basis von Naturgesetzlichkeiten und Zufall zu erklären. Beide Faktoren aber können keine Ziele ansteuern. Verräterisch sind in diesem Zusammenhang „um … zu“-Formulierungen, was bereits eine Zielorientierung beinhaltet. Beispielsweise habe sich das „Repertoire der Ontogenesen vergrößert, um ein breiteres Spektrum von Zielen unter einer wachsenden Anzahl von Bedingungen zu verfolgen ...“ (S. 433; Hervorhebung hinzugefügt).[16] Das Repertoire der Ontogenien sei vergrößert worden, „um eine breitere Palette von Zielen zu verfolgen ...“ (S. 434; Hervorhebung hinzugefügt; ähnlich auf S. 437).[17]

Moczek (2019, 67) beschreibt den Prozess, der zu verschiedenen Augentypen im Tierreich geführt hat so, als ob gleichsam nach Bedarf aus einem Werkzeugkasten das Nötige herausgeholt und genutzt werden könne: „… indem sie denselben Werkzeugkasten von Musterungsmechanismen, Sehpigmenten, Zelltypen und zellulären Schaltkreisen nutzten“,[18] gleichsam als ob die Evolution ein zielorientiert handelnder Akteur wäre.

Fazit

Die neuen Ansätze für innovative Evolution sind sehr vage. Wie nicht-triviale neue Konstruktionen durch Neukombinationen vorhandener (Regulations-)Gene, Signalübertragungswegen und anderer Module konkret zu echten Neuheiten geführt haben, ist nicht experimentell nachvollzogen, sondern wird theoretisch aus vergleichenden Untersuchungen erschlossen bzw. postuliert. Das „Rohmaterial“ für innovative Evolution sind die bereits bestehenden genialen Programmierungen der Lebewesen, um auf wechselnde interne und externe Bedingungen angepasst reagieren zu können. Dabei handelt es sich aber um einen Istzustand, der irgendwoher gekommen sein muss. Daraus Mechanismen innovativer Evolution abzuleiten, ist nicht gerechtfertigt. Diese genialen Fähigkeiten hätten sich zudem selber aufbauen müssen – aber mit genau den konventionellen Mechanismen, die von Moczek und anderen als unzureichend für innovative Evolution angesehen werden. Diese Situation zeigt, dass das Problem von mechanistisch-evolutionären Modellen immer größer wird: Einerseits steigt das feststellbare Ausmaß der zu erklärenden Komplexität der Lebewesen deutlich an, andererseits schwindet die Erklärungskraft des Darwin’schen Mechanismus für die erstmalige Herkunft der zugrunde liegenden Strukturen und Variationsmechanismen. Auch die neu vorgeschlagenen Evolutionsmechanismen bieten keine Erklärung für innovative Evolution. Vielmehr sprechen die Befunde, die für die vorgestellten Erklärungen herangezogen werden, deutlich für Planung.

Anmerkungen

[1] „The origin of novel complex traits constitutes a central yet largely unresolved challenge in evolutionary biology“ (433).

[2] „Of the four evolutionary processes conventionally recognized (natural selection, genetic drift, migration and mutation), the first three can only affect existing variants and their distribution within and among populations, but by themselves cannot bring about novel features. This privilege is instead restricted to mutation, yet attempts to explain the evolution of novel complex traits solely via the coincident origin, spread and fixation of one beneficial mutation at a time have proved largely unsuccessful. Not that mutational variation is irrelevant, but in the words of Fox Keller (2010), genes and genetic variants have emerged primarily as difference makers, factors that contribute to variation in traits, but by themselves do not suffice to make traits“ (434).

[3] „… the same genes, cellular transduction pathways, cell types and morphogenetic processes could be used to help build a wide range of both very similar and very different types of traits in distantly related organisms“ (434).

[4] „Diversity is thus made possible not despite, but because of the deep conservation of developmental processes, facilitated by the modular and combinatorial nature of development“ (435).

[5] Consequently, a very modest number of transduction pathways is sufficient to modulate an extraordinary diversity of regulatory decisions“ (436).

[6] „Während der Entwicklung von Wirbeltieren wandern beispielsweise Muskelvorläufer wahllos durch den Embryo, stabilisieren sich aber an Positionen, die mit der gleichzeitigen Bildung von Knochen in Zusammenhang stehen (Herring, 2011). Ebenso vermehren sich die Motoneuronen während der frühen Entwicklung reichlich, bleiben aber nur erhalten, wenn sie sich in der Nähe des sich entwickelnden Muskelgewebes befinden (Kovach et al., 2011). Das vaskuläre System [= das Gefäßsystem] dehnt sich während der frühen Embryogenese wahllos in den leeren Raum aus, differenziert sich aber später durch seine Anziehungskraft auf hypoxische Bedingungen [d. h. unter Sauerstoffmangel], wie z. B. solche, in denen das Muskel-Skelett-Wachstum stattfindet (Marti, 2005)“ (436).

„For example, during vertebrate development muscle precursors migrate at random throughout the embryo, but stabilize in positions relative to where bones are forming at the same time (Herring, 2011). Likewise, motor neurons proliferate abundantly during early development, yet are maintained only if they find themselves close to developing muscle tissue (Kovach et al., 2011). The vascular system expands randomly into empty space during early embryogenesis, but subsequently biases its differentiation through its attraction to hypoxic conditions, such as those where musculoskeletal growth is occurring (Marti, 2005)“ (435).

[7] „As developmental systems construct phenotypes, they change their own abilities to build future phenotypes, to respond to internal and external inputs and to exhibit resilience in the face of perturbation. Likewise, the evolution of developmental systems emerges as a process that has consistently modified its own repertoire and reachable phenotype space“ (437).

[8] As before, parts of an ancient developmental toolbox became reused over and over again, independently in very different lineages, in this case to enable the formation of various kinds of outgrowths, limbs, and appendages“ (67).

[9] „In all of these cases the Lego analogy of organismal development and evolution is perhaps most apt and obvious: novel traits and functions may arise with ease by placing old building blocks in new places“ (68).

[10] „As before, no new modules or building blocks need to be introduced, instead both up and down-stream components already exist; all that changes is the nature of interaction between them“ (70).

Vgl. auch: „In summary, heterotopy, heterochrony, heterometry, and heterocyberny all illustrate that much diversification and innovation may be possible without the need to generate new genes, pathways, or cell fates“ (Mocezk 2019, 70).

[11] „Our results therefore suggest that cryptic genetic variation may have enabled the evolutionary transition to carnivory in Spea tadpoles, and that such variation might generally facilitate rapid evolutionary transitions to novel diets“ (Ledon-Rettig et al. 2010, 3569).

[12] „Put another way, while there may indeed only be one way to specify proximo-distal identity in development, if a lineage ever needed to add that ability to whatever novel context, it was already endowed with a preexisting developmental toolbox ready to do just that“ (67).

[13] „Instead, many of the most promising breakthroughs in understanding the genesis of novel complex traits have occurred not in evolutionary biology itself, but through the comparative study of development“ (434).

[14] „developmental processes that are the product of past evolution to shape evolutionary change that has yet to occur“ (433).

[15] „Developmental bias in evolvability is, of course, an evolved property itself; one that did not come into being all at once, …“ (436).

[16] „repertoire of ontogenies to pursue a wider range of objectives across an expanding range of conditions“ (433).

[17] Second, I explore how the nature of developmental systems itself has evolved over time, increasing the repertoire of ontogenies to pursue a wider range of objectives …“ (434).

„… so can the evolution of development be understood as a process that has consistently increased the repertoires of ontogenies to pursue an ever wider range of objectives across an ever expanding range of conditions, …“ (437).

[18] „… by utilizing the same ancestral toolbox of patterning mechanisms, visual pigments, cell types, and cellular circuitry “ (67).

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Autor dieser News: Reinhard Junker

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