15.10.07 Entstehung von nichtreduzierbarer Komplexität
Erklärt ein elementar-geometrisches Computermodell die Entstehung nichtreduzierbarer Komplexität in der Biologie?
In der Diskussion um „Intelligent Design“ (Einführung in „Intelligent-Design“) spielt nichtreduzierbare Komplexität (irreducible complexity) als „Design-Signal" eine besondere Rolle. Bekannt wurde dieses Konzept durch Michael Behes Buch „Darwins Black Box“, das im Sommer dieses Jahres auch in Deutsch herausgegeben wurde (http://www.wort-und-wissen.de/info/rezens/b28.html).
Definition und Argument. Ein System ist nichtreduzierbar komplex, wenn es notwendigerweise aus mehreren fein aufeinander abgestimmten, interagierenden Teilen besteht, die für eine bestimmte Funktion benötigt werden, so dass die Entfernung eines beliebigen Teils die Funktion des Systems restlos zerstört (nach M. Behe, Darwin’s Black Box. The Free Press, New York, 1996, S. 36). Das sich darauf beziehende evolutionskritische Argument lautet: Es ist nicht möglich, ein nichtreduzierbar komplexes System kleinschrittig durch ungerichtete, graduelle, evolutive Prozesse aufzubauen. Behe diskutiert nichtreduzierbare Komplexität bei biochemischen Systemen, und sein darauf aufgebautes evolutionskritisches Argument wird auch „nur“ dafür behauptet.
Es wurde auf vielerlei Weise versucht, die Existenz nichtreduzierbarer Komplexität in Frage zu stellen oder das darauf aufgebaute evolutionskritische Argument zu widerlegen. In einem ausführlichen Beitrag (Nichtreduzierbare Komplexität, Stand 30. 4. 2008) bin ich auf zahlreiche Kritikpunkte eingegangen.
Computermodell. In einem 2006 veröffentlichten Artikel will die Informatikerin Suzanne Sadedin (Monash University, Australien) mit einem einfachen Computermodell die schrittweise evolutive Entstehung einer nichtreduzierbar komplexen Struktur demonstrieren, die Behes Definition erfüllen soll (http://www.csse.monash.edu.au/~suzannes/files/Sadedin2006TR.pdf).
Es handelt sich um ein einfaches geometrisches Modell eines zweidimensionalen, durch Aufteilung einer Fläche in Dreiecke entstandenen Gitters. Die Knoten (Eckpunkte der Dreiecke) können im EIN- oder AUS-Zustand sein. Stehen zwei benachbarte Knoten auf EIN, bildet sich eine Verbindung zwischen ihnen. Von einer kreisförmig geschlossenen Verbindung, die mehrere Knoten durchläuft, wird nun angenommen, sie habe eine Funktion, von einer offenen hingegen, sie sei funktionslos (Abb. 331). Wird aus der kreisförmig geschlossenen Verbindung ein Element entfernt, geht folglich die „Funktion“ verloren.
Ein solch einfaches System kann problemlos sukzessive durch Mutation und Selektion aufgebaut werden. Mutiert ein AUS-Knoten in den EIN-Zustand, so wird das Ergebnis der Mutation selektiert, wenn der Knoten einer kreisförmig geschlossenen Figur benachbart ist (dann bleibt die „Funktion" „Geschlossen sein" nämlich erhalten, s. Abb. 332 A-E). Größere Systeme sollen selektiv im Vorteil gegenüber kleineren sein. Nun können ab einer bestimmten Größe solche Knoten, die sich in der Mitte befinden, auf AUS mutieren, ohne dass die Funktion verloren geht (Redundanz!), und es kann so ein nichtreduzierbarer Zustand erreicht werden. Denn jetzt darf kein Knoten mehr auf AUS mutieren, ohne dass die „Funktion" verlorengeht. Auch die Entfernung redundant gewordener EIN-Knoten soll selektiv begünstigt sein (Abb. 332F; gleiche Größe mit weniger Knoten).
Kritik. Ist dieses Modell geeignet, die Entstehung nichtreduzierbarer Komplexität in der Biochemie zu simulieren? Den biochemischen Systemen, anhand derer Behe seine Behauptungen illustriert und belegt, wird der Ansatz von Sadedin nicht annähernd gerecht, und zwar aus folgenden Gründen:
• Ein zentraler Aspekt von Behes Definition fehlt: Das System, das Sadedin präsentiert, hat keine Funktion. Es wird ihm zwar eine Funktion unterstellt, aber es ist nicht ersichtlich, worin diese bestehen soll.
• Es fehlt der Aspekt der Interaktion der Teile (siehe Behes Definition oben), es sei denn, bloße Verbindungen zwischen Knoten werden als Interaktionen betrachtet. Eine solche „Interaktion“ trifft aber sicher nicht Behes Definition. Die Autorin steckt auch hier in das System etwas hinein, das es nicht hat.
• Es fehlt folglich der Nachweis, dass das Computermodell mit einem funktionalen System eines Lebewesens vergleichbar ist. Eine Modellierung, die die Vergleichbarkeit dessen, was modelliert werden soll, nicht einmal diskutiert, ist wertlos.
• Größere Systeme sollen selektiv im Vorteil gegenüber kleineren sein (s. o.). Auch hier stellt sich die Frage nach der Entsprechung zu biochemischen Systemen.
• Die EIN-Knoten im Gitter werden mit funktionalen Proteinen gleichgesetzt. Dies geht aus folgendem Zitat hervor: „Even within this short time, the evolved systems acquired levels of complexity similar to those of systems commonly cited as examples of irreducible complexity. Irreducibly complex systems produced by the model contained between 6 and 30 parts; the bacterial flagellum requires around 33 parts ...“ Das ist ausgesprochen unsachgemäß, da die Entstehung neuer funktionaler Proteine oder deren Einbau in ein System nicht mit einem einzigen Schritt (wie im Modell von Sadedin) möglich ist. Der im obigen Zitat getroffene Vergleich der Verbindungen von EIN-Knoten mit der Bakteriengeißel demonstriert die Irrelevanz der Computersimulation für die Entstehung biochemischer Apparate.
• Lässt man sich dennoch auf das Modell von Sadedin ein, so ist zu beanstanden, dass die betrachtete Fläche im Modell im Vergleich zur Komplexität biochemischer Prozesse (z. B. immenser Sequenzraum von Proteinen) viel zu klein gewählt ist. Wählt man die Gitterfläche in angemessener Größe, dann wird der Ausgangspunkt (Abb. 332A) nur sehr schwer erreicht. Außerdem würden sich dann auch verwertbare Mutationen zu selten ereignen, so dass das Modell didaktisch nicht mehr brauchbar wäre.
Fazit. Die Argumentation in dieser Veröffentlichung ist ausgesprochen oberflächlich. Der Begriff der „Komplexität“ wird zunächst so stark verallgemeinert, dass er sogar bei ganz elementaren, nach üblichem Verständnis gar nicht komplexen (also unkomplizierten) Sachverhalten verwendbar ist. Dass einfache Gebilde durch Zufall (Würfeln) erzeugt werden können, weiß aber jedes Kind. Die Arbeit geht deshalb in ihrem Ansatz und ihren Kernaussagen völlig an dem vorbei, was in der Diskussion über nichtreduzierbare Komplexität in der Biochemie erörtert werden müsste, nämlich die Entstehung von zielgerichteten Mechanismen, deren Einzelbestandteile keine abstrakten Punkte und Striche, sondern ihrerseits aufwändig herzustellende Gebilde sind.
Im Sadedin-Modell sind die Zwischenphasen zur Erreichung eines „komplexen“ Zielzustandes konzeptionell ganz offensichtlich. Dass sie später zumeist nicht mehr erkennbar sind, ist demgegenüber nachrangig. Im Falle der Biologie ist gerade die konzeptionelle Möglichkeit von Zwischenphasen eines der Hauptprobleme.
Dank: Wertvolle Hinweise für diesen Text erhielt ich von Prof. Dr. Eberhard Bertsch, Wetter, und Dr. Harald Binder, Konstanz. Autor dieser News: Reinhard Junker Informationen über den Autor
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